Joonas Sildre
Zwischen zwei Tönen
Aus dem Leben des Arvo Pärt, aus dem Estnischen von Maximilian Murmann
Die neugierigen Augen des kleinen Jungen sind so rund wie die Punkte, die um ihn schweben. Es sind die Noten, die er aus dem Radio hört und später einmal selbst erschaffen wird. So eindringlich setzt Joonas Sildre schon den ganz jungen Arvo Pärt ins Bild, in einer mehrfach ungewöhnlichen Biografie des estnischen Komponisten. Der Comiczeichner und Illustrator, ebenfalls aus Estland stammend, hat rund um dessen Leben und Werk eine Graphic Novel geschaffen.
Zwei wesentliche Stilelemente, die mal geschwungenen, mal zornig gezackten Notenlinien sowie schwarze und weiße Punkte für die Töne, ziehen sich durch die mehr als 200 anregenden Seiten. Doch diese beginnen mit einem düsteren Prolog: Ein leicht gebeugter Mann steigt eine steile, weiße Linie empor, nach dem Umblättern steht er am Ende, auf der Spitze des Strichs und schaut hinunter. „Endloser Weg nach Golgatha“ nennt Sildre diese Bildfolge, der eine glückliche Kindheit folgt. Der Mutter fällt eine Note in die Schürze, ehe ihr Gesang vom Brunnen vor dem Tore luftig schwingende Linien von ihrem Kind ausgehen lässt. Ab jetzt bestimmen die Sehnsucht nach Musik und die Suche nach dem Instrument dafür die Graphic Novel und Pärts Leben.
Mit spitzem Finger entlockt der Knabe einem Riesenklavier Tönepunkte, die noch größer werden, als er Liszt im Radio hört. Schnell will er Komponist werden, „aber ein anderer“; den Wehrdienst leistet er im Militärorchester, schlägt die Trommel, weil man „mit einem Klavier schlecht marschieren kann“. Damit schleichen sich in die ausdrucksstarken, nur mit den notwendigsten Linien gezeichneten Szenen die ersten Schatten ein. Estland hat im Zweiten Weltkrieg auch gegen die Vereinnahmung durch die Sowjetunion gekämpft – eine bittere, hierzulande kaum bekannte Parallele zu heute.
Als die Sirenen endlich nicht mehr drohen, sondern klingen, wendet sich auch Pärt wieder der Musik zu. Doch bei einem Laienwettbewerb wird seine Komposition als „weder sozialistisch noch national“ abgestraft. Hier zeichnet Sildre verkniffene, spitzgesichtige Funktionäre, die das Leben des Komponisten fortan bedrängen und zu bestimmen versuchen. Mit seinem Talent, auch Gestik und Mimik in knappen Bildsequenzen „sprechen“ zu lassen, bildet er Pärts schwierigen Weg ab. Von der verpönten Zwölftontechnik zurück zu Klassischerem sucht Pärt die ideale Musik und findet sie in der Religion. Ab hier kann, wer will, tief in Pärts Gedanken- und Glaubenswelt einsteigen, die auch in Sildres Zeichnungen immer mehr von orthodoxen Klöstern, Sara-Motiven und der Suche nach inbrünstig-einstimmigen Melodien geprägt sind. Da geht dem Zeichner dann doch einiges von der nötigen Distanz verloren, mit der er noch den Rauswurf Arvo Pärts aus der Sowjetunion ironisch wiedergibt: Da filzen Zöllner seine Koffer unter Kirchenfenstern.
Ute Grundmann