Marco Frei
Zwischen Wunschdenken und Realität
Wie umweltschonend, sozialverträglich und praxistauglich ist Klimaneutralität?
In Süddeutschland positionieren sich zwei Klangkörper als Klimabotschafter. Das Stuttgarter Kammerorchester hat laut eigenen Angaben als erstes deutsches Orchester eine Klimaneutralität erreicht. Vor zwei Jahren wiederum wurden die Münchner Philharmoniker mit dem „Ökoprofit“-Zertifikat ausgezeichnet. Auch im Rahmen der bundesweiten Initiative „Orchester des Wandels“ sind die Münchner auf diesem Gebiet eine treibende Kraft. Das alles klingt gut, trotzdem bleiben Fragezeichen.
Die Meldung aus Baden-Württemberg macht hellhörig. Im Frühjahr 2022 verkündet das Stuttgarter Kammerorchester, dass es als „erstes Orchester in Deutschland die Klimaneutralität“ erreicht habe. Damit übernehme der Klangkörper eine „Vorreiterrolle bei der dringend gebotenen Neugestaltung der kulturellen Praxis hin zu mehr Nachhaltigkeit“. Wie man das konkret erreicht hat? Indem zunächst einmal der Ist-Zustand grundlegend analysiert wurde.
Vom Kleinen ins Große
„Mit Hilfe einer spezialisierten Unternehmensberatung wurden sämtliche Aktivitäten des Orchesters ebenso in den Blick genommen wie der ökologische Fußabdruck der eingekauften Güter und Dienstleistungen“, heißt es in einer Pressemitteilung. Selbst die CO2-Emissionen des Publikums seien berücksichtigt worden. Die Evaluation dieser Bestandsaufnahme startete im November 2021. Das Ergebnis: „In den Jahren 2022, 2023 und 2024 werden sich die CO2-Emissionen des Stuttgarter Kammerorchesters hochgerechnet auf jeweils 420 Tonnen belaufen“, heißt es.
Mit 89 Prozent schlage demnach der Bereich Veranstaltungen inklusive Mobilität und Übernachtungen besonders zu Buche, gefolgt von zehn Prozent in der Verwaltung und einem Prozent im Management. Alles wird unter die Lupe genommen: nicht nur der Konzertbetrieb samt Spielstätten, sondern ebenso die Infrastruktur der Büros, die Produktion und der Versand der Print-Erzeugnisse, die Anfahrt zu den Proben, Konzerten und Meetings.
„Vermeiden und Einsparen vor Kompensieren“ lautet die Devise. Eine „pauschale Strategie“ habe es nicht gegeben, sondern „sehr viele, kleinteilige Maßnahmen“. „Sämtliche Arbeitsbereiche wurden auf umweltfreundlichere Alternativen hin abgeklopft.“ Die Büroräume speisten sich durch Fernwärme und Ökostrom, gedruckt werde auf Blauer-Engel-Papier, der Versand der Publikationen erfolge CO2-frei, die Mitarbeiter:innen würden beim Wechsel auf umweltfreundliche Mobilität umfangreich unterstützt. Gleichzeitig beteilige sich das Stuttgarter Kammerorchester an Aufforstungsprogrammen – auch als Kompensationsleistung für Emissionen, die eventuell nicht zu vermeiden sind.
Nicht zuletzt setzt das Orchester auf Technik. So sind die Stuttgarter stolz darauf, als erstes Orchester in Deutschland ganz auf digitale Noten umgestellt zu haben: von Papier zu Tablets. Außerdem soll 2023 erstmals ein „Hologramm-Konzert“ realisiert werden. Dabei werden das Stuttgarter Kammerorchester und das Tschechische Nationalballett gleichzeitig von zwei Ländern aus spielen, live verknüpft und miteinander verbunden durch ein Hologramm. Die sonst notwendigen Reisen sollen damit überflüssig werden…
Lesen Sie weiter in Ausgabe 9/2022.