Aerni, Heinrich
Zwischen USA und Deutschem Reich
Hermann Hans Wetzler (1870 - 1943), Dirigent und Komponist
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, bis zu Beginn der Nazi-Herrschaft, genoss Hermann Hans Wetzler in den deutschsprachigen Ländern Europas sowie in den USA, deren Staatsbürger er war, durchaus eine überdurchschnittliche Bekanntheit und zwar als Dirigent ebenso wie als Komponist. Als jedoch sein Nachlass im Jahr 2006 der Zentralbibliothek Zürich übergeben wurde, war sein Name so gut wie vergessen. Heinrich Aerni hat es übernommen, das Konvolut zu sichten und anhand von zahlreichen Briefen und Rezensionen, aber auch der Kompositionen Wetzlers ein umfassendes Lebensbild des Musikers zu zeichnen.
Der 1870 in Frankfurt geborene Wetzler war, dies wird bei der Lektüre von Anfang an klar, ein unruhiger Geist. Er wuchs in den USA auf. Zum Studium zurückgekehrt nach Deutschland, erhielt er in Frankfurt Unterricht von Clara Schumann und Engelbert Humperdinck. Wieder zurück in Amerika, gründete er die Wetzler Symphony Concerts, in deren Rahmen Richard Strauss Sinfonia domestica uraufgeführt wurde. Als Dirigent versuchte er sich anschließend in Deutschland und der Schweiz, und er kehrte in die USA zurück, wo er 1943 starb. Wo immer er wirkte als Stationen seien Hamburg, Riga, Lübeck und Köln genannt , gelang es ihm stets, Freundschaften zu knüpfen, aber auch ebenso regelmäßig anzuecken: bei Theaterintendanten, denen sein idealistisches Wesen fremd blieb, vor allem aber bei Orchestermusikern und Kritikern, die seine unklare Schlagtechnik bemängelten. Seine Kompositionen erfreuten sich in den Zwischenkriegsjahren vor allem bei konservativ gesinnten Musikfreunden
einer gewissen Beliebtheit und wurden von Dirigenten wie Hans Knappertsbusch und Arturo Toscanini aufgeführt; die Kritik jedoch bemängelte nicht ganz zu Unrecht ihre eklektizistische Grundhaltung. Und letztlich stand sich Wetzler, wie Aerni ausführt, auch oft selbst im Weg, fühlte sich stets missverstanden und reagierte des Öfteren undiplomatisch. Von seinen komponierenden Zeitgenossen ließ er zudem so gut wie niemanden gelten.
Es spricht sehr für Aernis Arbeit, dass er die zahlreichen Brüche in Wetzlers Leben und Charakter herausarbeitet, ohne Partei zu ergreifen.
Im ebenso reichhaltigen wie flüssig geschriebenen biografischen Teil ist Wetzlers Werdegang, von seinen ersten Auftritten als musikalisches Wunderkind bis zu seinem Tod, umfassend dokumentiert. Es schließt sich ein äußerst instruktives Kapitel zu Wetzlers Bedeutung als Dirigent an. Ein weiterer Abschnitt des Buchs befasst sich mit den Kompositionen Wetzlers, vor allem den Orchesterwerken und der einzigen Oper Die baskische Venus. Im Anhang schließlich finden sich ein Werkverzeichnis, Listen mit Wetzlers Repertoire als Dirigent und Pianist sowie zahlreiche Notenbeispiele. So ist nicht nur eine schillernde Figur der Vergessenheit entrissen worden, sondern der Leser erfährt auch viel Wissenswertes über das Musikleben jener Jahre, vor allem über den Alltag an den Opernhäusern in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg.
Thomas Schulz