Hans-Walter Schmuhl

Zwischen Göttern und Dämonen

Martin Stephani und der Nationalsozialismus

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Allitera, München
erschienen in: das Orchester 06/2019 , Seite 59

Dass Führungspersonen von ihrer Vergangenheit und damit von ihrer Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus eingeholt wurden, war ein Phänomen, dem man in der Bundesrepublik nicht selten, vielleicht aber dennoch zu selten, begegnete. Insbesondere in den Bereichen der Politik, der Verwaltung oder der Justiz finden sich rückblickend prominente Beispiele, welche letztlich Debatten um die Aufarbeitung derartiger Fälle angestoßen haben. In der Geschichtswissenschaft war und ist die Zeit des Nationalsozialismus mit einer kaum zu überblickenden Zahl an Forschungsarbeiten vertreten, wobei geschichtswissenschaftliche Aufarbeitungen oft an die Stelle treten mussten, wo die Justiz versagt hat.
Den 100. Geburtstag von Martin Stephani nahm die Hochschule für Musik Detmold zum Anlass, eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Rolle ihres früheren langjährigen Rektors im Nationalsozialismus in Auftrag zu geben, deren Ergebnis die vorliegende Publikation bildet. Wie der heutige Rektor der Detmolder Hochschule Thomas Grosse im Vorwort des Bandes offenlegt, standen die Vorüberlegungen zu einer Würdigung Stephanis anlässlich dessen 100. Geburtstags einerseits im Bewusstsein seiner jahrzehntelangen unbestrittenen Verdienste um die Entwicklung der Hochschule, andererseits unter dem Zeichen seines Wirkens während der NS-Zeit. Letztendlich hat sich der Senat der Hochschule zu einer Aufarbeitung von Stephanis Vergangenheit entschieden und Hans-Walter Schmuhl, außerplanmäßiger Professor für neuere Geschichte an der Universität Bielefeld, mit der Aufgabe betraut.
Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt die enorme Breite der Studie, die sowohl Stephanis Weg in die Kreise des NS-Machtapparates und seine Stellungen im Regime als auch seinen Werdegang in der Nachkriegszeit und die Berufung in das Amt des Rektors beleuchtet. Ebenso wird sein Wirken in diesem Amt thematisiert, wo auch Bemühungen um Wiedergutmachung erkennbar werden. Als wichtige Grundlage für seine Untersuchungen dient Schmuhl die Auswertung von Dokumenten, aber auch die Berichte von Zeitzeugen. Aus einer Vielzahl an Bruchteilen setzt er die gewonnenen Erkenntnisse zu einem Gesamtbild zusammen. Der umfangreiche Anhang mit textlich und bildlich wiedergegebenen Archivalien gestattet dem Leser, die Grundlagen der Untersuchung auch unmittelbar an den Quellen nachzuvollziehen.
Heute, über 70 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit und 36 Jahre nach Stephanis Ausscheiden aus dem Dienst der Hochschule – er starb ein jahr später –, geht es nicht mehr um Sanktionen, um die Berufung in ein Dienstverhältnis oder die Entfernung aus einem solchen aufgrund von nachgewiesenen Vorbelastungen. Vielmehr geht es um die moralische Pflicht der Aufrichtigkeit beim Umgang mit der eigenen Vergangenheit, was nicht nur für einzelne Personen, sondern gleichermaßen für Institutionen gilt. Eben diesem wichtigen Aspekt trägt die vorliegende umfangreiche Studie Rechnung.
Bernd Wladika