Inna Klause/Christoph- Mathias Mueller (Hg.)
Zwischen Gewandhaus und Gulag: Alexander Weprik und sein Orchesterwerk
Diese Veröffentlichung dokumentiert. Auf Deutsch und Englisch finden sich biografische Texte und musikalische Werkanalysen samt Notenmaterial. Auf Russisch kann man Briefe von Weprik im Original und in englischer Übersetzung lesen.
Alle Beiträge zusammen dokumentieren, was auf dem internationalen Symposium “Dem Vergessen entrissen. Symphonische Musik von Alexander Weprik” im Dezember 2018 in Hannover dargelegt und diskutiert worden ist. Die Veranstaltung „sollte dazu beitragen, die Musik des jüdischen Komponisten Alexander Weprik, der in den 1920er Jahren als eine der größten Hoffnungen der jungen Sowjet- union galt und anschließend durch eben diesen Staat gebrochen wurde, wieder ins allgemeine Bewusstsein zurückzuholen.“
In der jungen Sowjetunion sprossen kühne Ideen und Experimente in Kunst und Kultur reichlich: Neue Musik, Film, Malerei, Literatur und Gesellschaftskonzepte überraschten und begeisterten ganz Europa. Die Sowjetunion war Avantgarde. Und lud die Avantgarde zu Gast. In Moskau und Leningrad wurden Werke von Bartók, Krenek und Schönberg aufgeführt. Allerdings nur solange, bis die Politik ab 1929 anfing, die Kultur für ihre eigenen Zwecke und Absichten zu benutzen und sie – nebst ihren Schöpfern – zurechtstutzte. Das war der „Große Umbruch“. Im Aufbruch hingegen stand eine Bewegung im Zentrum, deren Wurzeln im 19. Jahrhundert und im Denken der Romantiker liegen: die Folklore.
Deren Rolle ist ambivalent. Ein Krisenkind. Die Renaissance der Folklore war europaweit die Antwort auf kriegerische Auseinandersetzungen und erwachendes Selbstbewusstsein als Nation. Das war in Norwegen, Schweden, Spanien, Tschechien, Polen und Rumänien nicht anders als in Russland und in der Sowjetunion ab 1917 – dem Jahr der Oktoberrevolution. Ambivalent ist die immer mal wieder stattfindende Wiedergeburt der Folklore deshalb, weil sie – zur Erneuerung – zurückschaut und Ursprünge sucht, um das jeweils Eigene und Echte einer Nation zu finden und weil die politischen Kräfte dieser Nationen eben das ausnutzen, um mit Worten und Waffen den Kampf gegen andere Nationen aufzunehmen.
Weprik hatte 1926 in der Moskauer Zeitschrift für Musikausbildung einen Artikel mit dem Titel „Renaissance der Folklore“ veröffentlicht. Im selben Jahr war in Österreich schon ein Text mit demselben Thema erschienen, auf den Weprik sich bezogen hat. Der Russe machte seinen Standpunkt in der Neuen Musik deutlich: neofolkloristisch und gegen die Wiener Schule. Und er hob die jüdische Musik als eine besonders wertvolle Quelle für das russische Selbstverständnis heraus.
Die jüdische Tradition mit den synagogalen Weisen und Liedern hat im Kontext des vielgestaltigen, europaweiten Folklorismus denn auch vor allem in Sowjet-Russland große Aufmerksamkeit gefunden. Wer sich für das Thema interessiert, bekommt mit diesem Buch viel geboten.
Kirsten Lindenau