Brügge, Joachim (Hg.)

Zur Interpretation von W. A. Mozarts Kammermusik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rombach, Freiburg 2015
erschienen in: das Orchester 06/2016 , Seite 63

Als junge Disziplin ringt die Interpretationsforschung im ehrwürdigen Kanon der Musikwissenschaften um Worte, Werkzeuge und Methoden, nicht zuletzt auch um Berechtigung. Am renommierten Mozarteum in Salzburg beschäftigen sich seit einigen Jahren Professoren, Dozenten und Studenten mit – wie könnte es anders sein – Mozart und der Interpretationsgeschichte seines Werks.
2008 begründete ein Band zu den Sinfonien die kleine Reihe „Klangreden“ im Freiburger Rombach-Verlag, jetzt hat als Herausgeber Joachim Brügge den Forschungsstand Zur Interpretation von W.A. Mozarts Kammermusik in Band 14 zusammengetragen. Da wird zum Beispiel der Versuch unternommen, unter akribischer und mit neuestem Gerät durchgeführter Vermessung von Klangspektrum, Tempo/Agogik und Dynamik dem Geheimnis unter vielen anderen von Brendels, Badura-Skodas, Gilels’, Schiffs, Goulds oder Guldas Mozart-Spiel auf die Spur zu kommen. Da wird der Pedaleinsatz vermessen, Phrasierung und Artikulation in Notenschrift übertragen und das alles zueinander in Beziehung gesetzt.
Was Rainer J. Schwob für die Klaviersonaten (an anderer Stelle für die Klavierquartette) hier zusammenträgt, gründet auf einem immensen Fundus an Aufnahmen und Messergebnissen und mündet in den schönen Satz: „Doch egal, in welcher Tradition sie (die Interpretinnen und Interpreten) stehen oder welches (mehr oder weniger historische) Instrument sie gewählt haben: Im Moment der Aufführung bzw. der Aufnahme vergegenwärtigen sie den Notentext und machen ihn dabei ,aktuell‘.“
Das mag jeder „praktizierende“ Musiker eh gewusst haben, könnte man denken. Dennoch scheint der Versuch eines objektivierenden Interpretationsvergleichs ehrenwert. So kann, wer Zeit und Lust hat, in dem sorgfältig editierten Buch erfahren, dass das Klinger-Quartett in einer Aufnahme von 1909 beim Menuett aus KV 421 jeden Takt das Tempo wechselt (und zwar vom extrem langsamen Auftakt-Viertel = 56 bis zu Tempo 182 in Takt 5), wie sich das bei den Wiederholungen ändert, wo welche Portamenti eingesetzt sind usw. Vergleiche zwischen den Quartetten Hagen, Ebène, Alban Berg und Emerson fördern mannigfaltige Unterschiede in Dynamik, Artikulation, Tempo usw. zutage, die den Autor Peter Revers zu der Auffassung bringen, dass beim Streichquartettspiel die Klangrede, eine am Gesang orientierte Tonsprache, eine bedeutende Rolle spielt.
Für Nicht-Wissenschaftler unter den Lesern dürften die Aussagen von Benjamin Schmid und Ariane Haering von größerem Interesse sein, die aus dem Alltag im praktischen Umgang mit Mozarts Violinsonaten in
einem Interview berichten. Kurz und knapp streift der Herausgeber am Schluss auch noch Verjazzungen von Mozarts Kammermusik durch Uri Caine, Zbigniew Namyslowski, Bobby McFerrin und Chick Corea. Fazit: Mozart ist im Jazz angekommen. In der Interpretationsforschung offenbar auch.
Armin Kaumanns