Nohr, Karin / Sebastian Leikert (Hg.)
Zum Phänomen der Rührung in Psychoanalyse und Musik
In seinen letzten Lebensjahren hat Joseph Haydn täglich die kleine Kaisermelodie unsere Hymne für sich selbst zur Freude auf dem Klavier gespielt. Und je älter er wurde, desto mehr rührte sie ihn zu Tränen. Diese starke innere Bewegung hat ihn verwundert und ein wenig geniert. Denn sie schien ihm ein Ausdruck von Schwäche zu sein.
Damit hat er durchaus ins Schwarze getroffen. Doch was kann sie sonst noch alles sein und vor allem: Was ist Rührung dem Wesen nach ? Ist sie überhaupt erforschbar und theoriefähig? Ihre Untersuchung lohnt sich jedenfalls, denn es handelt sich um einen Seelen- und Körperzustand, den vermutlich jeder Mensch kennt. Und oft gar nicht so gern mag, weil er verräterisch ist.
In dem vorliegenden Band der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik beschäftigen sich neun Autoren mit dem Phänomen Rührung; ein Gespräch zum Einstieg in die Materie tragen die beiden Herausgeber dazu bei. Aus der Fülle der Emotionen, die die Musik im Menschen auslöst, hatte Karin Nohr den Affekt Rührung seiner Besonderheit wegen zum Thema eines psychoanalytischen Symposions gemacht.
Das Erlebnis von Bachs Matthäuspassion hatte sie einst selbst über die Schwelle zur Erwachsenen getragen. Die starke Rührung, ja, Überwältigung bildete, wie sie es gedeutet hat, gleichsam die Initiation in die größere Welt der Kultur und führte heraus aus der kleineren Welt der Familie. Zudem vielleicht nur Werbesprache, doch trotzdem aufschlussreich war ihr die Praxis im Kulturbetrieb aufgefallen, Wörter wie rührend, berührend, ergreifend, überwältigend und begeisternd sehr oft zu verwenden, sowohl zur Kennzeichnung von Musikinterpretationen als auch zur Charakteristik von Literatur und Filmen.
Durch Rührung zeitgemäß gesagt: durch das Being moved werden Erfahrungen nichtsprachlicher Form, die im Körpergedächtnis gespeichert sind, wirksam und streuen über ein weites Feld von Gefühlen: Sehnsucht, Glück, Ent-Spannung, aber auch Sentimentalität, Selbst-Mitleid, Rührseligkeit. Die Kunst als Kraft zu beschreiben, die die Seele bewegt und den Ennui bannt, klingt in unseren Ohren etwas altmodisch. Die moderne Ästhetik spricht anders und folgt eher dem Programm von Eduard Hanslick, doch bitte aus der dunklen Herrschaft des Gefühls herauszukommen, um zu verstehen.
Mit dem Phänomen Rührung ist man ganz auf der subjektiven Seite, und die Kunst wird oft Funktion. Durch schöne Stellen, durch Dynamik, durch Tempi, Wiederholung oder durch poetische Sprachemacht sie etwas mit den Menschen.
Die Autoren nähern sich dem Thema breit, unter anderem über Literatur, die über Musik spricht; die Neurobiologie von Emotionen; Mozarts Sonate KV 448 in tiefenhermeneutischer Betrachtung; einen essayistischen Text und über einen sehr guten Beitrag über GEFÜHL (sic!) und Musik im Allgemeinen. Viele Perspektiven und manche Einsicht!
Kirsten Lindenau