Ute Grundmann
Zum Jubiläum wird gesungen
Der Carus-Verlag feiert sein 50-jähriges Bestehen
Ob Gregorianik oder Pop, Oratorium oder Shanty – singen kann man alles, was im Stuttgarter Carus-Verlag erscheint. Allerdings selten solo, sondern meist in Gemeinschaft: Chöre sind seit 50 Jahren Kern und Herzstück der Editionen und Publikationen. Mit Chorissimo wird das Singenlernen der Jüngsten bis zur weiterführenden Schule begleitet und gefördert; aber auch, wer den richtigen Ton sucht, findet Rat: mit der Übe-App Carus-music.
Gefeiert wird das Verlagsjubiläum am 3. Juni – und mit ihm der Klang menschlicher Stimmen. Das Festkonzert in Stuttgart, dem Gründungsort des Verlags, gestaltet der Kammerchor Stuttgart unter seinem Gründer und Leiter Frieder Bernius. Er initiierte 1968 das Sängerensemble, um mit ihm auf dem technischen und künstlerischen Niveau zu musizieren, das bestens ausgebildete Orchestermusiker zu bieten hatten. Vier Jahre später gründeten Chorleiter Günter Graulich und seine Frau Waltraud Graulich den Carus-Verlag und begleiteten und unterstützten so auch die Entwicklung der Chormusik in Westdeutschland. „Anfang der 1970er Jahre hatte sich die Chormusik in Deutschland noch nicht vollständig von den Folgen des Zweiten Weltkriegs erholt. Viele Chöre befanden sich noch im Aufbau und suchten nach einem geeigneten Repertoire.“ So beschreibt Johannes Graulich diese Anfangsphase des Verlags, den er heute, gemeinsam mit Ester Petri, leitet. Antonio Vivaldis Gloria in D-Dur RV 589 für Chor und Orchester war die erste Carus-Ausgabe, zugleich die erste wissenschaftlich-kritische Notenedition dieses Werks. Ein Bestseller ist sie bis heute.
In dieser Gründungszeit war vor allem die romantische Chormusik noch weitgehend unerschlossen, bedeutende Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy wurden nicht (mehr) geschätzt, auch dies eine Folge der Nazi-Zeit. So wurde der romantische Bereich ein erster Schwerpunkt, mit Mendelssohn-Urtext-Ausgaben und der Rheinberger-Gesamtausgabe. Parallel brachte Frieder Bernius diese Werke wieder zum Klingen; auch die Chorwerke des Bachschülers Gottfried August Homilius sowie von Komponisten wie Jan Dismas Zelenka oder Louis Spohr fanden durch „Kritische Ausgaben“ und mehrere Einspielungen ihren heute festen Platz im Repertoire. Im Jahr 2009 wurde der Carus-Verlag für diese Verdienste mit dem Telemann-Preis ausgezeichnet.
Dabei hatte und hat man im Verlag das Ohr immer nah bei den Chorsängern und -leitern, tauscht sich weltweit mit ihnen aus, richtet die Angebote nach deren Bedürfnissen. So beeinflusste etwa auch die Alte Musik und die Entwicklung der historisch informierten Aufführungspraxis den Anspruch, wie ein Chor klingen sollte: „Der Chorklang ist heute schlanker, vibratoärmer und auch differenzierter“, so Graulich, „viele Sängerinnen und Sänger nehmen privat Gesangsunterricht, was wiederum der Ensemblearbeit zugutekommt.“ Für beides wird gut ediertes Notenmaterial für Chöre und Orchester gebraucht – und von Carus geboten.
Dass der Verlag aber keineswegs in der Vergangenheit unterwegs ist, zeigen die beiden Uraufführungen im Jubiläumsjahr. Da werden Auftragswerke des dänischen Komponisten John Hoybye und seines argentinischen Kollegen Martín Palmeri erstmals erklingen. 45000 Werke aus fünf Jahrhunderten, mehr als 750 Klavierauszüge, Urtexte, Chorbücher für Kirchenchöre beider großer Konfessionen sowie für Kammerchöre – all das finden die derzeit mehr als drei Millionen Menschen, die in einem Chor singen, ob beruflich oder in der Freizeit. Zu Jazz- und Pop-Ensembles haben sich inzwischen auch Schwulen-, Lesben- sowie Flüchtlingschöre gesellt.
Besondere Aufmerksamkeit widmet man den jungen und jüngsten Sängern und ihrem Weg in die Chorgemeinschaft. Mit der Benefizinitiative „Liederprojekt“ konnte man viele Sing-Unternehmungen in Deutschland möglich machen. Aber man reagierte auch auf die Weiterentwicklungen der vergangenen 50 Jahre in den Kinder- und Jugendchören. Dazu gehört kindgerechte Stimmbildung ebenso wie ein neues Repertoire, das diesen Altersgruppen besser entgegenkommt. Starke Chöre haben sich zu einem wichtigen Zentrum im Musikleben der Schulen entwickelt, durch Musicals und Singspiele kam für diese Altersstufen der szenische zum musikalischen Bereich hinzu.
Aber natürlich sind die Corona- und Pandemie-Jahre weder am Verlag und seinen 47 Mitarbeitern noch an den Chören spurlos vorbeigegangen. Gravierende wirtschaftliche Einbußen waren für Carus die Konsequenz. Mittels staatlicher Unterstützungsprogramme konnte man die Digitalisierung im Bereich der Chormusik vorantreiben. Die Chöre, gleich welcher Größe oder musikalischer Ausrichtung, hatten unter Singverboten, gesperrten Übungs- und Auftrittsorten, ausbleibenden Einnahmen zu leiden. Um darüber Genaueres zu erfahren und Hilfen zu ermöglichen, initiierte der Verlag im vergangenen Jahr die ChoCo-Studie: 4300 Chöre aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beantworteten Fragen zu ihrer Situation, anhand dieser Analyse konnte man die öffentlichen Entscheidungsträger über die Situation der Chöre informieren. Das hat sicher auch die Gestaltung von Förderprogrammen wie „Neustart Amateurmusik“ und „Impuls“ im Rahmen des „Neustarts Kultur“ erleichtert.
Auch der Deutsche Chorverband setzte „ein wichtiges Signal“, als er 2022 zum „Jahr der Chöre“ machte und „so öffentlich die Bedeutung und vor allem die positive Wirkung des Singens wieder ins Bewusstsein aller“ gerückt habe, freut sich Ester Petri. In diesem Jahr nun hat man die Chöre in den drei deutschsprachigen Ländern wieder um ein Bild ihrer Lage gebeten, mit Fragen wie: Was hat sich im Vergleich zum ersten Pandemiejahr verändert, welche Fördermaßnahmen wurden angenommen, welche vielleicht nicht, und welche Unterstützung braucht es im Jahr 2022? Die Antworten auf die Studien-Fragen werden wieder von Kathrin Schlemmer und Susanne Lotter an der Katholischen Universität Eichstätt ausgewertet, die Ergebnisse sollen bald vorliegen.