“Zu schauen kam ich…”

Der Ring des Nibelungen an der Oper Frankfurt 2010-2012, Fotografien von Monika Rittershaus

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Oper Frankfurt/Henschel, Leipzig 2012
erschienen in: das Orchester 11/2012 , Seite 73

Mit einem Tropfen fängt alles an: Die konzentrischen Kreise, mit denen sich zu Beginn des Rheingolds ein Tropfen auf der Wasseroberfläche ausbreitet, gehen über in die Scheiben des von Jens Kilian für alle vier Abende gestalteten Einheitsbühnenbilds. Wasser, Feuer, Erde, Luft: Auf den vier Grundelementen baut Regisseurin Vera Nemirova ihre Deutung des Ring des Nibelungen auf. Was sich auf dem Papier zu einer mathematisch anmutenden Matrix ordnet, führt auf der Bühne zu einer der faszinierendsten Ring-Inszenierungen der vergangenen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Die Kritiker sind sich einig wie selten und feiern den Frankfurter Ring als neuen Jahrhundert-Ring.
Dieses Frankfurter Opernereignis ist nun auch in einem opulenten Bildband zu bewundern, der über ein Erinnerungsbuch für alle, die dabei sein durften, weit hinausgeht. Monika Rittershaus hat die Frankfurter
Inszenierung in fantastischen Aufnahmen festgehalten. Der Nahblick auf Gestik und Mimik der Sänger-Darsteller verdeutlicht noch einmal von Neuem die exemplarische Qualität dieser Aufführungen. Gelegentlich wäre weniger mehr gewesen: Wenn auf einer Doppelseite verschiedene Fotos in unterschiedlichen Größen miteinander kombiniert sind und durch den dunklen Bühnenhintergrund nicht deutlich zu sehen ist, wo das eine Bild aufhört und das andere beginnt, entstehen Mischfotos,
“Fabelwesen”, die ab und an verwirrende Szenen erzeugen.
Doch bietet dieser Bildband weit mehr: In den Textbeiträgen ist nachzulesen, welcher Anstrengungen des gesamten Teams es bedarf, um solch ein Ergebnis zu erzielen. Man erhält zudem überraschende Einblicke in den Entstehungsprozess einer Operninszenierung, bei dem viel weniger im Voraus geplant und festgelegt ist, als man es als Außenstehender vielleicht erwartet. Vielmehr entstehen einzelne Details oder gar größere Einheiten oftmals spontan und erst im letzten Augenblick. So erläutert Nemirova, dass sie bis wenige Augenblicke vor der ersten Probe zum Schlusstableau, dem großen Weltenbrand der Götterdämmerung, noch nicht exakt wusste, wie sie den Schluss der Tetralogie gestalten werde. Das Ergebnis jedoch
– alle Darsteller aller vier Abende versammeln sich auf der leeren Bühne und schauen in den hell erleuchteten Zuschauerraum – gehört mit zum Stärksten und Ergreifendsten, was diese Inszenierung zu bieten hat.
Faszinierend auch die Einblicke, die Sebastian Weigle in seine Arbeit mit der Partitur gewährt, etwa seine Überlegungen zur Instrumentierung ab der Hälfte des Siegfried und in der Götterdämmerung, die Wagner bereits ganz auf die baulichen Verhältnisse des Bayreuther Festspielhauses ausrichtete und die für Aufführungen an anderem Ort akustisch an die jeweiligen Verhältnisse angepasst werden muss.
“Alles schien mir der Ring des Nibelungen zu erzählen, was wir Menschen überhaupt zu erzählen haben, in unendlichen Schichten und Schattierungen”, so die Schriftstellerin Zsuzsa Bánk in ihrem einleitenden Beitrag mit dem Untertitel “Vom Glück, den Ring zu sehen”. Und das könnte in leichter Abwandlung auch der Untertitel dieses Buches sein: “Vom Glück, den Frankfurter Ring noch einmal sehen zu dürfen”.
Rüdiger Behschnitt