Siggi Seuß

Zeit der Wunder

Die Jahre des Aufbruchs am Meininger Theater 1990 bis 2001

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Resch
erschienen in: das Orchester 04/2020 , Seite 64

Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt die Sammlung von Porträts und Interviews, die bereits in den Tageszeitungen Meininger Tageblatt bzw. Main-Post erschienen sind, nicht. Bei dieser Zeit der Wunder im langen Jahrzehnt 1990 bis 2001 stellt sich heraus: Nicht alles war Gold, was glänzte. Vielmehr eröffnen die Begegnungen des Journalisten Siggi Seuß mit den seither verstreuten Sängern, Dirigenten, Schauspielern, Puppenspielern und anderen Theaterschaffenden das Panorama einer intensiven Phase in der südthüringischen Staatstheater-Kleinstadt Meiningen. Es reihen sich zutiefst emotionale Bekenntnisse zu den Brettern, die die Welt bedeuten, und optimistische Neuanfänge an Karriereknicks, Enttäuschungen und gebrochene Lebenswege.
Es geht um die Zeit des Aufbruchs nach der Wende, als Intendant Ulrich Burkhardt bis zu seinem frühen Unfalltod 1997 alle Sparten des Meininger Theaters mit seinem überlegten Spielplan und dem Abtragen von ästhetisch-methodischen Mauern auf einen überall bewunderten Erfolgskurs brachte; darum, wie dieser Erfolgskurs von seiner nach einer Interimsspielzeit antretenden Nachfolgerin Christine Mielitz mit einem kompletten Ring des Nibelungen mit Premieren an vier aufeinanderfolgenden Tagen mit zwei Orchestern und dem durchstartenden Kirill Petrenko im April 2001 fortgeführt wurde.
So gelangte das Meininger Theater in alle wichtigen internationalen Feuilletons.
Insgeheim ist dieses Buch eine Hommage an die 2016 in Ruhestand gegangene, aber nicht direkt zu Wort kommende Verwaltungsdirektorin Regina Schwabe. Kommentare von Beteiligten wie der Sopranistin Wiebke Goetjes (Aida in Peter Konwitschnys lautstark umstrittener Meininger Inszenierung) oder dem damaligen Operndirektor Ingolf Huhn, heute Intendant des Eduard-von-Winterstein-Theaters Annaberg-Buchholz, reichen von geharnischter Empörung bis zu milder Freude. Diese Reflexionen verraten viel von der Symbiose zwischen ambitionierter Hochkultur und einer Kleinstadt, deren drittgrößter Arbeitgeber das Theater Meiningen ist und welches erst unter der DDR-Regierung nach 1945 eine eigene Musiktheater-Sparte erhalten hatte.
Seuß stellt die meist an den neuen Wohnorten seiner Gesprächspartner entstandenen Porträts objektiv nebeneinander. Nur
in Ausnahmefällen markiert er kontrastierende Meinungen. Zum Beispiel setzt er die Aussage der Intendantin Christine Mielitz, dass die Generalmusikdirektorin Marie-Jeanne Dufour aus Angst vor Wagner von ihrer Stelle zurückgetreten sei, in Beziehung zu einem Statement Dufours, die Mielitz’ Form der Gesprächsführung als strategische Attacke mit dem Ziel ihrer Kündigung deutete.
Insgesamt enthalten die Porträts weitaus weniger Hymnen auf einen Karriere- und Entwicklungszenit in Meiningen als bei der Lektüre des Vorworts zu vermuten wäre. Die Bereitschaft der Porträtierten war sehr groß, die Schleusen ihrer Erinnerungen zu öffnen. Deshalb wurde Zeit der Wunder ein eher gebrochenes als glorifizierendes Zeitdokument.
Roland Dippel