Stendel, Wolfgang

Zeit — Wellen

für Orchester, Sutdienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Verlag Neue Musik, Berlin 2015
erschienen in: das Orchester 07-08/2016 , Seite 68

Es sei ihm wesentlich, so der Komponist Wolfgang Stendel, „dass Musik einen bestimmten Grad der Verwandtschaft mit den alten Schönheiten“ aufweise und dass ein schaffender Musiker „die von Generation zu Generation fortwirkenden progressiven Gedanken fasslich im jeweils speziellen Genre ausformen“ müsse; daher komme es ihm „in der musikalischen Kunst auf eine Idee und auf eine gewissenhafte Verwirklichung an“. Die initiale Idee zum 2015 komponierten, groß besetzten Orchesterstück Zeit – Wellen, nämlich einige Verse aus Virginia Woolfs Gedicht Die Wellen, hat Stendel seiner Partitur vorangestellt und damit dezidiert auf den Zusammenhang zwischen Zeitgestaltung und Wellenbewegung hingewiesen. Damit gehört das Werk dem Umkreis einiger Arbeiten an, in denen sich der Komponist während der vergangenen Jahre – erkennbar an entsprechenden Werktiteln – mit der Beschaffenheit von Zeit auseinandergesetzt hat.
Ausgangspunkt des einsätzigen Orchesterstücks ist eine von den tiefen Holzbläsern vorgetragene Figur, die sich in gemächlichen Schritten im Tonraum emporbewegt, um innerhalb der nächsten Phrase vom höchsten Ton aus wieder um zwei Schritte abzusteigen und in einen Halteton zu münden. Dieser fast schon gestisch gefasste Gedanke wellenförmiger Bewegung ist der rote Faden, an den das orchestrale Gewebe auf immer andere Weise unter Bezug auf wechselnde Proportionen, Geschwindigkeiten und Intervallverhältnisse angelehnt wird. Jeder einzelne Abschnitt ist durch ein anderes Grundtempo bestimmt, woraus Stendel einen Gesamtverlauf schafft, der aus Prozessen der Verdichtung, Höhepunktsbildung und Entflechtung besteht, wodurch die Dramaturgie wellenartiger Entfaltung zur Grundlage der Musik wird.
Indem der Komponist für jeden Abschnitt von Zeit – Wellen einzelne Instrumentengruppen aus der mit dreifachem Holz, vierfachem Blech und reichhaltigem Schlagzeug ausgestatteten Orchesterbesetzung auswählt, die ihm zur Verfügung stehenden Farbwerte also filtert, neu kombiniert und zur Gestaltung der mittels Dynamik, Registerwechsel und Satzdichte unterstrichenen wellenförmigen Prozesse einsetzt, schafft er einen aus miteinander kontrastierenden Texturen zusammengesetzten Verlauf, der immer in Bewegung bleibt. Die Abwechslung entsteht hierbei nicht nur durch immer neue, manchmal auch kontrapunktisch zueinander verlaufende Farbkombinationen, sondern vor allem auch durch die rhythmische Bewegtheit der Einzelstimmen, die den Eindruck von Statik unterläuft.
Dass Stendel seine Einzelstimmen in rhythmischer Hinsicht zwar stellenweise anspruchsvoll gestaltet, bezüglich Notation und spieltechnischen Anforderungen jedoch – im Gegensatz zu einigen seiner Kammermusikwerke – nicht über die gleichsam traditionellen Erfordernisse an das Instrumentalspiel hinausgeht, dürfte einer orchestralen Realisierung wesentlich entgegenkommen und ist wohl auch ein deutlicher Hinweis auf die Praxiserwägungen, die der Komponist mit seiner Arbeit verknüpft.
Stefan Drees