Franz Schubert

Symphony in B Minor D 759 „Unfinished“/ Symphony in C Major D 944 „The Great”

Dresdner Philharmonie, Ltg. Marek Janowski

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Pentatone
erschienen in: das Orchester 02/2024 , Seite 69

Mit 84 Jahren erfreut sich Marek Janowski einer intensiven Alterskarriere mit abgewogenen Eroberungen eines für ihn neuen und Wiederholungen seines bekannten Repertoires. So versetzt es in Erstaunen, dass Janowski erst nach dem konzertanten Ring des Nibelungen mit der Dresdner Philharmonie zu Tomasz Koniecznys neuem Festival in der Waldoper Sopot 2023 seinen allerersten Fliegenden Holländer dirigierte. Janowskis zweite Ägide als Chefdirigent des städtischen Orchesters von Dresden wurde auch zu einer umfangreichen Tonträger-Reihe mit Highlights aus dem deutschen Standardrepertoire – nebst Ausflügen zu Puccinis Mantel und Mascagnis Cavalleria rusticana. Jetzt also Franz Schubert mit dessen aus ästhetischer Ratlosigkeit über den Vorstoß in das Experiment Unvollendeter und der das Gattungsparadigma mit größtmöglicher zeitlicher Dehnung erfüllenden Großen C-Dur-Sinfonie. Die Aufnahmen entstanden im Herbst 2020 im Dresdner Kulturpalast.
Die Auflichtungen der melancholischen Unvollendeten sind wohl keiner Reflexion auf historisch informierte Transparenz-Ambitionen zuzuschreiben, sondern eher Janowskis immer größerem Bedürfnis nach dem Schweben im substanzreichen Klingen. Diese Haltung nimmt dem beliebten Werk die erwartbar düstere Gewichtung. Die Dresdner Philharmonie schafft es, gleichermaßen leicht, sanglich, transparent und akzentuiert zu spielen. Das Resultat gerät nicht zu flächiger Wehmut, sondern allenfalls zu Spuren einer von Sentimentalität freien Melancholie.
Diese Haltung zieht Janowski auch in die Große C-Dur-Sinfonie. Die Aufnahme kommt an den leisen und liedhaften Stellen in die Nähe des vor vielen Jahren mit den Wiener Philharmonikern bei Schubert Weichheits- und Sanftmut-Rekorde ansteuernden Karl Böhm. So gehören die Takte von dem Aufbruch in die Durchführung des Kopfsatzes und die innige Hymnik vieler Holzbläserpassagen mit zu den schönsten Momenten in der Tonträger-Historie dieser Sinfonie. Aber Janowskis Gesamtarchitektur erweist sich als bipolar. An den Fortissimo-Stellen treibt er die Dresdner Philharmonie in eine marschhafte Rhythmik, die trotz dynamischer Differenzierung fast grob wird. Dieser Dualismus wirkt schroff, unorganisch und uneinheitlich. Umso bedauerlicher ist dieser Verhärtung im Forte, weil Janowski hinter der Liedhaftigkeit und Leichtigkeit der leiseren Stellen potenzielle Abgründe hörbar und spürbar macht.
Zu Herbert Blomstedts Großer C-Dur-Sinfonie mit dem Leipziger Gewandhausorchester ist diese Aufnahme keine gleichrangige Konkurrenz. Auch gegenüber dem gewiss überinterpretierenden Zugriff Enoch zu Guttenbergs in der Einspielung der KlangVerwaltung macht Janowskis Auslegung einen ambivalenten Eindruck, weil sich der Sinn von Janowskis Kontrastmaßnahmen nicht mit wünschenswerter Plausibilität erschließt.
Roland Dippel