Yin

Rubrik: Noten
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„Musik soll vital, kunstvoll und verständlich sein. Als praktikabel möge sie den Interpreten für sich gewinnen, als erfassbar sodann den Hörer“ (Harald Genzmer, 1978). An diesen Kriterien orientiert sich der seit 2010 im Zweijahreszyklus von der Hochschule für Musik und Theater München in Verbindung mit „Jugend musiziert“/Deutscher Musikrat für wechselnde Kammermusikformationen ausgeschriebene Harald-Genzmer-Kompositionswettbewerb. Das Ziel des Wettbewerbs ist es, „die Verbindung hoher spielmusikalischer Praktikabilität mit innovativen ästhetischen Vorstellungen zu prämieren“.
Die beim Wettbewerb 2016 mit dem ersten Preis gekrönte Komposition Yin der in Hamburg studierenden Chinesin Peilei Shang verkörpert diese Maxime in geradezu idealer Weise: Das an traditionelle chinesische Musik erinnernde Werk für Flöte und Klavier nimmt den Zuhörer mit auf eine äußerst spannende Reise in faszinierende Klangwelten, die durch ein mit neuen Spieltechniken bestens vertrautes Instrumentalistenduo in den Raum gezaubert werden. Aus flimmernden Klangüberlagerungen entwickelt sich ein farbenreicher Fluss des atmosphärisch Meditativen, in den immer wieder behutsam eingebettete Klangeffekte neue Nuancen und Schattierungen hineinbringen. Liest sich die aus praktischen Gründen doppelt vorliegende Partitur trotz großzügigsten Drucks aus strukturellen Gründen bisweilen kompliziert, so wird sich das auf Neue Musik spezialisierte Instrumentalduo sicher schnell in die sorgfältig erstellten Spielanweisungen einarbeiten, um zu einer faszinierend ruhigen und äußerst friedvoll wirkenden musikalischen Gestaltung dieses ästhetisch höchst ansprechenden Werks zu gelangen. Das partiell präparierte Klavier schlüpft hierbei klanglich immer wieder in das Gewand der Qin, einem alten klassischen chinesischen Saiteninstrument. Die siebensaitige, heute Guqin genannte Zither mit einer Geschichte von 3000 Jahren gilt als das Inst-
rument der Gelehrten, der Maler und Dichter, Philosophen und Herrscher. Die Spieltechnik und Klanggebung der Flöte wiederum soll an das ebenfalls altehrwürdige chinesische Instrument Xiao erinnern – eine Langflöte aus Bam­bus, die insbesondere bei buddhistischen Mönchen als Meditationsinstrument gespielt wurde.
Der gedankliche Überbau, der Yin als Verneigung vor dem Atem uralter chinesischer Tradition erscheinen lässt, überträgt sich durch eine der Musik innewohnende große Würde fesselnd auf den geneigten Zuhörer. Für die Interpreten dieses faszinierenden Werks wird sicher der Weg das Ziel sein: Vom Blatt lässt sich die Komposition nicht „mal eben“ schnell spielen; aber die Auseinandersetzung mit Peilei Shangs musikalischen Gedanken ist ausgesprochen lohnend! Weit fortgeschrittene, ernsthaft ambitionierte Schüler wird man mit dieser Komposition betrauen können – so man sie nicht gleich selbst für ein bevorstehendes Konzert vorbereitet.
Christina Humenberger