Ingo Hoddick

Wuppertal Musikalische „Hölle“

Das Sinfonieorchester Wuppertal mit einem der letzten Auftritte von Martin Grubinger

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 55

Der Ausnahme-Multipercussionist Martin Grubinger, Jahrgang 1983, absolviert gerade seine letzte Konzert-Saison – nach zwei Jahrzehnten auf der Bühne. Im Dezember spielte er in der Historischen Stadthalle Wuppertal beim 4. Sinfoniekonzert des Wuppertaler Sinfonieorchesters die Deutsche Erstaufführung des für ihn geschriebenen Konzerts Inferno für Solo-Percussion und Orchester von dem 1979 in Island geborenen Daníel Bjarnason. Der Solist bedient darin gefühlt 85 verschiedene Instrumente, an manchen Stellen mehrere gleichzeitig. Dominierend ist in den Sätzen Eins und Drei das baskische Txalaparta; bei diesem Aufschlagsidiofon handelt es sich um mindestens drei Holzbalken, die über zwei Querträger gelegt sind. Die Holzbalken werden mit senkrechten (hier auch waagerechten) Stöcken bearbeitet.
Im mittleren der drei Sätze mit dem Titel „A Passage“ (Eine Überfahrt) erscheinen zwei Orchesterschlagzeuger an der Rampe neben dem Solisten und assistieren ihm stimmend und spielend an vier Kurbelpauken. Dies erinnert an Vergil, der den Dichterkollegen Dante im ersten Teil von dessen Göttlicher Komödie, der den Titel „Inferno“ trägt, durch die Hölle führt. Oder an einen Fährmann, der tote Seelen aus einer Welt des Lichts in das Reich der Schatten bringt. Gemäß dem isländischen Brauch, Babys nicht unmittelbar nach der Geburt einen Namen zu geben, musste Bjarnason das Werk erst von Grubinger gespielt erleben, bevor es einen Titel erhielt. Auf die Frage des Komponisten nach einem Titelvorschlag habe der Solist lakonisch geantwortet: „Hölle“. Das spielt sicherlich auch an auf die irrsinnige Virtuosität des Soloparts. Die Zugabe des Solisten war, wie so oft, seine eigene, fast akrobatische Kadenz über Trommeletüden, die er mit den Worten ansagte: „Das hat mit Musik nicht viel zu tun.“
Um das Konzert von Bjarnason webte der junge GMD Patrick Hahn einen passenden, doppelt kontrastierenden Rahmen. Zu Beginn kam das opulente Sinfonische Zwischenspiel aus der von 1915 bis 1918 komponierten und zwei Jahre später in Frankfurt am Main uraufgeführten Oper Der Schatzgräber von Franz Schreker. Dieser ist neben Grubinger und Hahn der dritte profilierte Österreicher des Programms. Seine Oper war eines der meistgespielten zeitgenössischen Musiktheaterwerke der Weimarer Republik. Die Irrungen und Wirrungen der Handlung spiegeln sich in zunehmender dramatischer Zuspitzung, aber auch in sanftem Stillstand. Nach der Pause kam noch die 1944 entstandene und ein Jahr später in Moskau uraufgeführte Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100 von Sergej Prokofjew. Mit gut 40 Minuten Spieldauer ist dies sein längstes und auch sein bekanntestes sinfonisches Werk. Das gewählte Motto „Triumph des menschlichen Geistes“ konnten auch die stalinistischen Kulturbehörden genehmigen. Oder hatte man damals überhört, dass schon mit dem scherzhaften zweiten der vier Sätze das glorifizierende Gerüst ins Wanken gerät, sich eine ironische bis sarkastische Skepsis einschleicht?
Das Sinfonieorchester Wuppertal stellte sich gut auf die drei sehr unterschiedlichen Stilistiken ein, brachte die Rhetorik und die stimmungsvolle Klangschönheit der jeweiligen Musik gut herüber. In der besonders kniffligen Prokofjew-Sinfonie fehlte freilich noch die letzte Prägnanz. Das Publikum war jedenfalls wie im Rausch – sicherlich auch, weil alle Werke des Abends krachend endeten.