Isolde Schmid-Reiter (Hg.)

Worttonmelodie

Die Herausforderung, Wagner zu singen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: ConBrio
erschienen in: das Orchester 10/2020 , Seite 59

Der Gesangspädagoge Julius Hey, den Richard Wagner als Lehrer seiner geplanten “Stilbildungsschule” vorsah, baute in seinem bedeutenden Lehrwerk “Deutscher Gesangs-Unterricht” (1882-1886) auf Wagner’schen Vorstellungen vom Singen auf und propagierte einen Gesangsstil, den er den „deutschen“ oder „vaterländischen Bel Canto“ nannte, Begriffe, die er Richard Wagner in den Mund legte.
Isolde Schmid-Reiter hat sich im neusten Band der Schriften der Europäischen Musiktheater-Akademie gemeinsam mit Musikwissenschaftlern, Regisseuren, Sängern, Agenten, Intendanten, Operndirektoren und anderen Wagner-Kennern und Gesangsspezialisten dem Phänomen des Wagner-Gesangs zugewandt. Es geht ihr um die von ihm sogenannte „Worttonmelodie der menschlichen Stimme“, der, wie es in “Oper und Drama” (Wagners programmatischer Hauptschrift) heißt, der „Symbiose von Wortsprache und Tonsprache“.
Wagners Ziel war eine „Verschmelzung von Wort und Ton“, der Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken spricht von einem Akt der Grenzüberschreitung: „Die Entgrenzung der Mittel … im Gesang diente … einzig dazu, der utopischen Verheißung eines Zukünftigen Gestalt zu verleihen.“ Für Lütteken ist das der „zentrale Nerv des ,Kunstwerks der Zukunft‘“, das ganze Gegenteil der „unleidlichen Wagnerischen Liebesbrüllerei“, die schon Hugo von Hofmannsthal beklagte. Aber wie singt man Wagner?
Der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf macht auf die Fragwürdigkeit der bis heute geltenden Stimmfächer Heldentenor, Hochdramatische und Heldenbariton aufmerksam und erinnert daran, dass Wagner den Stimmgattungsbezeichnungen und Rollenfächern skeptisch gegenüberstand. Susanne Vill ist der Meinung, der Wagner-Sänger sei vor allem „Medium eines Austauschs zwischen physischer und geistiger Welt“. Im Wagner-Gesang fordere der Komponist im Ideal der „Selbstentäußerung“ einen eher überpersönlichen Klang. „Der Stimmsitz verbindet den Ansatz der Maske mit der Kuppel des Kopfes, und die Stütze nutzt die Kraft des Zwerchfells zusammen mit der Bauchmuskulatur … Der Sänger begreift sich als schwindendes Medium eines Klanges, der durch ihn über ihn hinaus tönt.“
Der Mediziner Dirk Mürbe untermauert dies mit der detaillierten Erklärung aus stimmphysiologischer Perspektive. Welche Probleme es mit sich bringt, den Wagner-Sänger in das große Wagner-Orchester zu integrieren, erläutert die Dirigentin Simone Young.
Der Sängeragent Germinal Hilbert beklagt zu Recht, dass heute oft vom Szenischen, also der Optik des Sängers her besetzt wird, weil im Musiktheater heute meist das Theater größer geschrieben werde als die Musik. Wie wahr! Es ist ein schwieriges opernpraktisches Unterfangen, Wagner-Partien angemessen, will sagen: szenisch wie musikalisch glaubwürdig zu besetzen, wie Intendant Dominique Meyer beklagt. Sein Wort in Gottes Ohr.

Dieter David Scholz