Holger Noltze

World Wide Wunderkammer

Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Körber
erschienen in: das Orchester 11/2020 , Seite 61

Alle reden nur noch von Corona. Was Wunder: Corona hat die Welt verändert, ja in eine tiefe Krise gestürzt. Besonders hart getroffen hat es die Kultur und die Kulturschaffenden. Kaum ein Opernhaus, kaum ein Orchester spielt noch in traditioneller Gewohnheit, was Besetzung, Größe und Sitzordnung angeht, vom Repertoire zu schweigen. Für viele Freiberufler eine existenzielle Katastrophe. Musiker, Sänger, Orchester, Konzert- und Opernhäuser entdeckten in ihrer Not die Möglichkeit, „ihren guten Inhalt im Netz direkt und meist kostenlos zu verbreiten“.
Aber auch professionelle wie selbsternannte Musikspezialisten und -kritiker haben dort das Wort, ob über YouTube („ein gewaltiger Lagerraum, er enthält überwiegend Gerümpel, aber auch … wertvolle Inhalte und echte Fundstücke“), Acebook, Blogs, Podcasts, eigene Websites, digitale Konzerthallen sowie Opernhäuser, Video- und Audiostreamingdienste oder Spotify.
Noltze stellt digitale Bibliotheken und das Portal „Europeana“ vor, das digitale E-Zine VAN oder Brüggemanns Klassik-Woche: „Brüggemann ist so schnell nichts peinlich, auch nicht seine eigene Eitelkeit, zu der er ein entwaffnend unverkrampftes Verhältnis pflegt … unbestreitbar hat er eine wichtige kommunikative Funktion im ‚Betrieb‘ erkannt und übernommen.“
Selbst in Anna Stumpfs Seite „how to opera“ erkennt Noltze noch ein nützliches „niederschwelliges Vermittlungsangebot durch Visualisierung“.
All das hat zur Folge, „dass die Türen zur Welt des Semiprofessionellen“ geöffnet werden. Mängel, Fehler, Oberflächlichkeiten, Ungenauigkeiten, ja Fehlinformationen im Netz sind vorprogrammiert im „All der totalen Verfügbarkeit“, dem WWW: „Macht das Web nun dumm, machte es schlau? … Wohl beides, wir haben es nicht ganz in der Hand.“ Eben!
Dennoch redet Noltze der „Transformationsdynamik des Digitalen“ das Wort. Es ist heute „beinahe jeder erdenkliche Inhalt irgendwo im digitalen Paralleluniversum da“. Man befrage nur die Suchmaschinen. „Wer Musik wichtig findet, wird die neuen Möglichkeiten … begrüßen.“ Eine virtuelle Wunderkammer! Noltze lässt sich auf die Wunder und Möglichkeiten dieser digitalen Welt ein. Sie ist für ihn „keine bessere Welt, aber auch keine schlechtere, … weil sie uns mit so unendlich viel mehr konfrontiert“. Noltze bekennt, dass „das, was wir ästhetische Erfahrung nennen …, eine Möglichkeit der digitalen Welt ist und nicht deren Negation.“ Dies werde in diesen Tagen, „wo viele Optionen, die wir kennen, nicht mehr gelten“, sehr klar. „Was wird, liegt an uns.“
Ganz im Gegensatz zu seiner vorhergehenden, zweifellos wichtigen Publikation Die Leichtigkeitslüge, die als geharnischte, aber brillante Kritik an Bildung, Medien und Kulturbetrieb Aufmerksamkeit erregte, ist dieses ein erstaunlich zahmes, optimistisches Buch.
Dieter David Scholz