Émile Jaques-Dalcroze

Works for violoncello & piano

Pi-Chin Chien (Violoncello), Bernhard Parz (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: TYXart
erschienen in: das Orchester 01/2023 , Seite 70

Der Schweizer Émile Jaques-Dalcroze (1865–1950) ist vielen Musiker:innen heute vorwiegend als Pionier der Reform-Pädagogik um die vorletzte Jahrhundertwende ein Begriff: In Paris bei Marmontel am Klavier und in Wien bei Hermann Graedener in Komposition ausgebildet, entwickelte der Musiker ab 1902 eine eigene Bewegungsschule, die in Deutschland als „Rhythmische Gymnastik“ bekannt wurde. 1911 gründete er in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden eine „Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus“ und 1915 in Genf das noch heute existierende Jaques-Dalcroze-Institut, von wo aus sich die Lehren des meist im Dandy-Look fotografierten Künstlers durch Kongresse und weitere Institutsgründungen weltweit verbreiteten.
Dass Jaques-Dalcroze auch als Komponist eine eigenständige Persönlichkeit war, beweisen die vier auf dieser CD versammelten Zyklen mit vierzehn Stücken für Violoncello und Klavier aus den Jahren 1891 bis 1924, ­allesamt CD-Ersteinspielungen. Während das eröffnende Lied romantique op. 48 Nr. 1 in G-Dur von 1902 noch ganz im romantisch-elegischen Tonfall schwelgt und Einflüsse von Robert Schumann bis Gabriel Fauré aufweist, zeigt sich zwei Jahrzehnte später in den vier Rythmes délaissés das rhythmisch-tänzerische Interesse des Komponisten: Synkopen und ungerade Taktarten überwiegen, stilistische Berührungen mit Jazz und Modetanz der 1920er Jahre werden keineswegs vermieden. Diese Musik verlangt vom Spieler wie vom Hörer eine stete Wachheit, die alle überraschenden Wendungen des immer noch tonalen, aber harmonisch deutlich komplexer gewordenen Geschehens mitzuvollziehen bereit ist. Unwiderstehlich in ihrem mitreißenden Schwung ist besonders die Nummer 4, Gaîment animé.
Auch die bereits 1891 erschienene Suite op. 9 setzt mit der abschließenden a-Moll-Tarantella einen virtuosen, von raffinierten Bordunwirkungen geprägten Schlusspunkt. Auf ein Kinderkonzert von 1907 gehen hingegen die Trois Esquisses zurück, in denen Jaques-Dalcroze zwischen pädagogischer Theorie und kompositorischer Praxis überzeugend vermittelt.
Die aus Taiwan stammende Cellistin Pi-Chin Chien und der in Wien als Professor wirkende Pianist Bernhard Parz meistern vor allem die temperamentgeladenen Stücke der CD mit Elan, klanglicher wie agogischer Eleganz und exzellentem Zusammenspiel. In den lyrischen Stücken entwickeln sie manchmal ein übertriebenes Agitato, so als gälte es, irgendeiner Schwäche oder drohenden Langeweile der Komposition vorzubeugen – was aber nicht nötig wäre.
Es überrascht, dass man sich hier mit insgesamt 42 (!) Minuten Musik zufrieden gegeben hat und die CD nicht durch Klavierstücke von Jaques-Dalcroze, etwa die Vingt Caprices (1920) oder die Musiques en Zig-Zags (1935) ergänzt hat. Einen wertvollen kulturhistorischen Überblick verschafft der Booklet-Text von Walter Labhart.
Rainer Klaas