Mieczysław Weinberg

Wir gratulieren!

Oper in zwei Akten. Katia Guedes, Anna Gütter, Olivia Saragosa, Jeff Martin, Robert Elibay-Hartog, Kammerakademie Potsdam, Ltg. Vladimir Stoupel

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classics
erschienen in: das Orchester 02/2021 , Seite 70

Nicht erst die Feierlichkeiten zu seinem 100. Geburtstag, zum Beispiel das Festival des Jewish Chamber Orchestra Munich oder ein Schwerpunkt des Gewandhausorchesters, katapultierten den Schostakowitsch-Schüler Mieczysław Weinberg (1919-1996) und sein bis hin zu Filmmusik fast alle Gattungen umfassendes Œuvre in die vordere Reihe der meistaufgeführten Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Ein gewichtiger Grund dafür ist Weinbergs humanes und emotionales Ethos. Neben seiner imponierenden Holocaust-Oper Die Passagierin komponierte er ein groteskes Sujet wie Lady Magnesia nach der Farce Passion, Poison and Petrification von George Bernard Shaw oder seine erst jetzt nach dem Mitschnitt der Eigenproduktion des Konzerthauses Berlin 2012 durch Deutschlandradio endlich auf CD veröffentlichte politische Küchenposse Wir gratulieren! Das am 13. September 1983 am Moskauer Kammertheater uraufgeführte Opus erklingt hier in der Fassung für Kammerensemble von Henry Koch und in deutscher Übersetzung von Ulrike Patow.
Bemerkenswert ist einiges an diesem Stück, in dem Weinberg sich gegen den Antisemitismus in Moskau mit einer die ideologischen Mittel des Sowjetsystems nutzenden Strategie zur Wehr setzte. Das Hauspersonal, welches in den letzten Jahren des Zarismus die Befehle seiner adeligen Herrschaft nur nachlässig befolgt, sind Juden. Diese Dienerschaft trinkt, schlemmt, liebt – und rebelliert mit der Forderung nach Würde gegen den Klassenfeind. Scholem Alejchem versetzte in seinem Theaterstück einige der aus seinen Erzählungen über den Milchmann Tewje bekannten Typen vom Schtetl Anatevka nach Moskau. Deren deftige Konversationen münden in eine von Weinberg zugesetzte Hymne auf den Textdichter seiner Oper, vorgetragen vom revoltierenden Bücherkolporteur Reb Alter. Auch Goethe-Zitate flackern.
Weinbergs Partitur springt – darin Richard Strauss’ Vorspiel zu Ariadne auf Naxos ähnelnd – zwi-schen Parlando, Melodie und sehr nuancierter Kontrastfülle. Kleine Violinsoli erinnern an Chagalls Fiedler auf dem Dach, Vladimir Stoupel scheut keine der lustigen Grobheiten. Wir gratulieren! ist, abgesehen von Jeff Martins berührend intonierter Alejchem-Hymne, sehr drastisch und recht nahe an Janáčeks berührend scharfen Menschenbildern. Katia Guedes, Anna Gütter, Olivia Saragosa, Jeff Martin und Robert Elibay-Hartog kosten das mit viel Situationswitz und Gassenhauer-Melos gekonnt aus.
Bei der Uraufführung von Henry Kochs Kammerfassung spielte man auch Weinbergs lauten, affirmativen Schluss. In der CD-Veröffentlichung erklingt nach dem weillartigen Bänkellied „Zu Hause waren wir zehn Jungen“ nur die „dissonantere“ Alternative. Es ist nicht ganz klar, ob Säbeltanz-Anklänge und an Rimskij-Korsakow erinnernde Instrumentalfarben erst durch die Kammerfassung so deutlich werden.
Mit 80 Minuten hat Wir gratulieren! die ideale Hygienekonzept-Dimensionierung.
Roland Dippel