Franz Schubert

Winterreise op. 89, D 911

Tobias Berndt (Bariton), Heidi und Uwe Steger (Akkordeon), GewandhausChor, Ltg. Gregor Meyer

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Genuin
erschienen in: das Orchester 5/2024 , Seite 74

Einen Zyklus „schauriger Lieder“ stellte Franz Schubert Ende 1827 seinen Freunden vor, seine Winterreise, von der er nicht ahnen konnte, dass sie einmal als Höhepunkt der Gattung des Kunstlieds empfunden werden würde. Die umfangreiche Aufführungsgeschichte des Werks hat sich seither nicht nur auf die sängerische Wiedergabe in verschiedenen männlichen und weiblichen Stimmlagen beschränkt. Auch der Instrumentalpart wurde mannigfach bearbeitet, und selbst Eingriffe in den Notentext fehlten nicht, wie in Hans Zenders komponierter Interpretation von 1993. Daneben gab es szenische Erweiterungen wie choreografische Umsetzungen der Winterreise.
Eine jüngst erschienene CD-Einspielung bietet eine weitere eigenwillige Transkription des Schubert’schen Originals. Sie stammt von Gregor Meyer, dem Leiter des GewandhausChors, der den Vokalpart teils wie gewohnt solistisch vortragen lässt, teils aber auch seinem vielstimmigen Ensemble überantwortet. Als weiterer Verfremdungseffekt wirkt es, wenn in der vorliegenden Interpretation Schuberts Klavierpart durch ein Akkordeon-Duo wiedergegeben wird.
An Letzteres gewöhnt man sich bald, zumal das Akkordeon-Duo Heidi und Uwe Steger eine Beweglichkeit und ein Ausdrucksspektrum zu entwickeln vermag, die dem des Klaviers nicht nachstehen: zwischen milden und aggressiven, zwischen sanft einhüllenden und geradezu harschen Klängen. Anfreunden kann man sich auch schnell mit der Stimme des Baritons Tobias Berndt, der dem vereinsamten Protagonisten der Winterreise mit klarer Diktion und ohne jede Larmoyanz anrührende Züge verleiht.
Durchaus bewundernswert ist das Geschick, mit dem Gregor Meyers Arrangement den Chor ins Spiel bringt: Er kann einen Echoraum bilden, in dem die Phrasen des Sängersolisten nachhallen oder auch einmal ganz an dessen Stelle treten und die Führung der Erzählung übernehmen. Musikalisch souverän und ganz geschmeidig hat Gregor Meyer die Übergänge gestaltet und auch die Grenzen zwischen Instrumental- und Gesangspart raffiniert aufgeweicht.
Doch für den, der die Winterreise entsprechend der Gedichtvorlagen Wilhelm Müllers als den Ausdruck der existenziellen Krise eines Vereinsamten, aus der Gesellschaft Gefallenen begreift, bleibt bei dieser Bearbeitung ein Unbehagen zurück. Der Chorpart fungiert zu oft im Sinne eines Weichzeichners, macht das Schroffe glatt und das Hässliche schön. Von starrender Kälte ist nicht mehr viel zu spüren. Enttäuschend harmlos klingt zumal der abschließende Leiermann, bei dem wohl die polyfone Erweiterung der Instrumentaloberstimme im Akkordeonpart Interesse weckt, die Ausführung der Bordunquinten im Bass durch einen ganz diskreten Summchor jedoch befremdet.
Gerhard Dietel