Fazıl Say

Winter morning in Istanbul/Concerto for two pianos and orchestra/Sonata for two pianos

Ferhan und Ferzan Önder, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Ltg. Markus Poschner

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Winter & Winter GmbH
erschienen in: das Orchester 10/2019 , Seite 68

Der türkische Pianist Fazıl Say ist ein Grenzgänger, wie es nicht viele gibt. Mit berstender Energie wechselt er zwischen Jazz und Klassik, zwischen der Rolle als Pianist und als Komponist. Die Liste seiner Kompositionen ist lang, die seiner Einspielungen von Bach bis Mussorgsky nebst dazugehöriger Preise ebenfalls. Says kompositorische Fantasie entzündet sich an Bildern, Geschichten, Ereignissen. Feinsinnige Materialerkundungen sind seine Sache nicht. 1001 Nights in the Harem ist ein Violinkonzert betitelt, es gibt eine Istanbul Symphony, eine Mesopotamia Symphony, und gerade hat er eine Klaviersonate namens Troja-Sonate herausgebracht. Says Musiksprache ist kraftvoll, sinnlich, rhythmisch vibrierend, spätromantisch, jazzig – und manchmal plakativ. Alles, was Say emotional berührt, so scheint es, muss sich in Musik verwandeln. So auch die Ereignisse im Mai 2013, als eine friedliche Demonstration zum Erhalt der Bäume im Istanbuler Gezi-Park von Polizeikräften brutal gesprengt wur­de. Says Antwort darauf war das Concerto for two pianos. Beim Hören darf man getrost das Kopfkino in Gang setzen. Es beginnt mit der hoffnungsvollen Versammlung Tausender, gepaart mit Anklängen an anatolische Volksmusik („Evening“), beschwört im zweiten Satz den Mythos der Bäume im Gezi-Park („Night“) und mündet schließlich in die Schilderung der Polizeiattacke, wobei das Orchester ausdrücklich die Rolle der Polizei übernimmt („Police Raid“). Verfolgungsjagden, Niederknüppeln, Brutalität lassen sich unschwer aus den scharfen und spitzen Bläsereffekten und den wilden Schlagzeugpassagen heraushören. Eine besondere Rolle fällt den beiden Klavieren zu, die Say als „Geschwister“ verstanden wissen will. Im Blick hatte er dabei das aus der Türkei stammende, international erfolgreiche Klavierduo der Zwillingsschwestern Ferhan und Ferzan Önder. Sie stehen stellvertretend für die friedlichen Demonstranten, und so „erleidet“ auch der Klavierpart alle Höhen und Tiefen dieser Stunden. Das Duo Önder meistert die enormen pianistischen Herausforderungen der Partitur mit Bravour. Sein Spiel sprüht vor Leidenschaft, bleibt aber auch, vor allem in rhythmisch vertrackten Partien, klar und strukturiert. Die Aufnahme entstand als Liveeinspielung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Markus Poschner im Mai 2016 in Berlin. Dem Duo Önder zugedacht sind auch die drei Sonatas op. 80 für zwei Klaviere (uraufgeführt Januar 2019), die heftige Attacken à la Bartóks Allegro barbaro, Quasi-Improvisationen und prachtvollen Klangrausch bieten. Schließlich: Winter morning in Istanbul für Klavier zu vier Händen: pittoresk mit gedämpften Saitenklängen zu Beginn und gefühlvoller Klangmalerei im Anschluss. Gewöhnungsbedürftig: das leicht verkitschte Cover mit den Schwestern Önder als zarte Wesen, die in der Kulisse Istanbuls unterm Regenschirm spazieren oder sich mit Schleiern necken.
Mathias Nofze