Müller, Kai Hinrich

Wiederentdeckung und Protest

Alte Musik im kulturellen Gedächtnis

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann, Würzburg 2013
erschienen in: das Orchester 06/2014 , Seite 66

Alte Musik hat sich im 20. Jahrhundert als eine wichtige Säule des Musiklebens etabliert. Kai Hinrich Müller widmet ihr seine Dissertation, die nun bei Königshausen & Neumann als Buch veröffentlicht wurde, das einerseits ein Nachschlagewerk ist, andererseits wichtige Impulse zur weiteren Diskussion gibt.
Damit diese Diskussion eine Grundlage hat, erläutert Müller Begriffe wie „historische“ oder „historisierende“ Aufführungspraxis und „Alte“ und „alte“ Musik, die in der alltäglichen Diskussion zumeist unscharf benutzt werden. Seiner Beschreibung der Alten Musik legt er zwei Kategorien zugrunde, nämlich zum einen „Protest“ und zum anderen „Wiederentdeckung“. Mit diesen Kategorien beschreibt er die geschichtliche Entwicklung. Dabei ist die Bach-Rede von Paul Hindemith aus dem Jahr 1950 sein Ausgangspunkt. Die geschichtliche Entwicklung gliedert er in die „Entzündungsphase“ im 19. Jahrhundert, die „Konsolidierungsphase“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die „Professionalisierungsphase“ ab 1950. Er zeigt dabei, wie die Alte-Musik-Bewegung zum einen ein Protest gegen die herrschenden Formen der Musikaufführung war, zum anderen der Versuch, Vergessenes wiederzuentdecken, seien es alte Inst-
rumente, alte Spielweisen oder Kompositionen.
Müller entwickelt Modelle, wie kulturelles Gedächtnis in der Musik funktioniert, unterscheidet zwischen einem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis, zwischen einem Speicher- und Funktionsgedächtnis. Er zeigt, wie es der Alten Musik um historische Gerechtigkeit etwa bei Telemann ging, der lange Zeit im Schatten Bachs stand. Er beschreibt die Rolle alter Musikinstrumente als „Träger des kulturellen Gedächtnisses“. Der Einfluss von Neuer Sachlichkeit, der neuen Medien, der Jugendmusik-
bewegung vor dem Zweiten Weltkrieg wird aufgezeigt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Alte-Musik-Bewegung, wie Müller darlegt, auch eine Gegenreaktion gegen den „Zerstörungswillen“ der Avantgarde und entsprach im „basisdemokratischen Musizieren“ der Mentalität der 1968er Jahre. Im Zentrum der Alten Musik während der Professionalisierungsphase steht die Suche nach „Authentizität“, die im „Erinnerungsboom“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt. Indem die Alte Musik „im und am Gedächtnis“ arbeitet, versucht sie, die klassische Musik zukunftsfähig zu machen. Doch hat die Alte Musik eine Zukunft? Müller sieht eine Sättigung des Markts und einen Überdruss an der Vergangenheit. Durch die Übernahme der Historischen Aufführungspraxis im allgemeinen Musizieren verliert die Alte Musik ihre Abgrenzung zur klassischen Musik.
Ob die Alte Musik nur eine Zeiterscheinung oder mehr ist, diese Frage bleibt offen. Doch Müller beschreibt die Alte Musik erstmals aus der Distanz, und dadurch gelingen ihm tiefe, wegweisende Einsichten. Ein wichtiges, lesenswertes Buch!
Franzpeter Messmer

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