Neuenfels, Hans

Wie viel Musik braucht der Mensch?

Über Oper und Komponisten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bertelsmann, München 2009
erschienen in: das Orchester 04/2010 , Seite 65

Spätestens seit seiner berühmten Aida-Inszenierung in Frankfurt, die – vom Publikum zuerst vehement abgelehnt – später zu einem wahren Renner wurde, gilt Hans Neuenfels als einer der wirkungsmächtigsten Provokateure des deutschen Regietheaters. Dass seine Theaterarbeit Qualitäten hat, die über dieses Etikett weit hinausgehen, hat sich in den vergangenen Jahren indes mehr als nur bestätigt.
Dass der Regisseur, Autor und Librettist von einer unbändigen Liebe zum Theater, besonders dem Musiktheater, im positiven Sinn besessen ist, unterstreicht das vorliegende Buch. Hier sind Programmhefttexte, Zeitungsartikel und bislang Unveröffentliches versammelt, wobei der Leser einige Kenntnis der Musik- und Kulturgeschichte, aber auch der europäischen Theaterlandschaft der vergangenen Jahrzehnte mitbringen sollte, um viele Momente dieser Sammlung wirklich goutieren zu können – trotz der beigegebenen Übersicht über die Inszenierungen von Neuenfels und biografischen Angaben zu den behandelten Komponisten und Autoren. Es sind mystische Begegnungen mit seinen bevorzugten Komponisten, Pamphlete, gelegentlich ironische Selbstbespiegelungen eines Künstlers, der seine Eitelkeit nicht immer verbergen kann, aber zugleich viel Erhellendes, Geistreiches, zum Weiterdenken Anregendes.
Neuenfels’ Texte sind geprägt von der emotional unterfütterten, zumeist von Kopflastigkeit befreiten Annäherung an die Komponisten, mit deren Werk er sich besonders intensiv auf der Bühne beschäftigt hat, allen voran Giuseppe Verdi, mit dem er in einen imaginären Dialog tritt; auch Richard Wagner, mit dem ihn eine komplexe Beziehung verbindet; natürlich Mozart, aber auch Ferruccio Busoni, Alexander Zemlinsky oder Bernd Alois Zimmermann. Voller Enthusiasmus, gemischt mit Naivität und einer Spur Selbstüberschätzung, nähert sich der Autor seinen Komponisten, verwickelt Verdi in einen imaginären Dialog mit der Lyrikerin Sylvia Plath, der ihm als Grundlage für das Libretto zu der Oper Giuseppe e Sylvia dient. Schubert und der Leierkastenmann aus der Winterreise, die bei der Klavieroper Schubert, Schumann und der Schnee, zu der Neuenfels den Text lieferte, bedeutsam sind, tauchen ebenso auf wie Wagner, dessen Lohengrin Neuenfels 2010 in Bayreuth inszenieren wird.
Die Suche nach der Person hinter dem Komponisten, mit dem der Autor jeweils imaginierte Dialoge führt, macht den Reiz der Aufsatzsammlung aus. Bei Verdi gelingt ihm diese fiktive Zweisprache am eindrucksvollsten. Man muss sich auf den Autor Neuenfels ebenso einlassen wie auf den Regisseur, um dessen überraschende Volten, Geistesblitze, manchmal auch banal wirkende Äußerungen zur Musik schätzen zu können. Manch Überflüssiges wird man überlesen müssen. Doch die Kraft der Prosa, viel Kluges zu Werk und Künstler entschädigen dafür mehr als ausreichend. Wenn Neuenfels seine zwiespältige Meinung zu Wagner mit dem Hinweis unterstreicht, „wir sind wohl alle der Meinung, dass es keinem Komponisten je gelang, dem Geschmacklosen eine so gültige Form zu geben“, so zeigt sich hinter der scheinbaren Provokation ein tiefer Einblick in die Werk- und Rezeptionsgeschichte.
Walter Schneckenburger