Axelrod, John

Wie großartige Musik entsteht … oder auch nicht

Ansichten eines Dirigenten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter/Henschel, Kassel 2012
erschienen in: das Orchester 12/2012 , Seite 63

John Axelrod ist Texaner. Da verwundert es nicht, dass seine “Ansichten eines Dirigenten” ebenso optimistisch wie unterhaltsam daherkommen. Los geht’s mit einer eindrucksvollen Anekdote: wie Karajan mit einer einzigen Orchesterprobe seine Amerika-Karriere gefährdete, indem er den von George Szell mühsam polierten Klang des Cleveland Orchestra verbog. Es folgt ein bunter Essay, der durch seine Gliederung in neun Kapitel nur mühsam in Zaum gehalten wird. Denn der 46-Jährige, der von Leonard Bernstein zur Dirigentenkarriere ermutigt wurde und nach Zwischenstopp in Luzern nun das Orchestre National des Pays de la Loire leitet, erzählt ungebremst drauflos. Er verbindet Anekdoten und Reflexionen, musikhistorische Schlenker, Ausflüge in Interpretations- und Tonträgergeschichte sowie interkulturelle Mentalitätsvergleiche. Immer wieder erzählt er eigene Erlebnisse, wie etwa jene Episode im mondbeschienenen kalifornischen Napa Valley: Axelrod, der damals als Weinhändler arbeitete, wurde vom Tristan-Vorspiel im Autoradio derart überwältigt, dass er am nächsten Tag kündigte, um Dirigent zu werden.
Erfrischend spitzzüngig wirken Axelrods Einschätzungen bedeutender Orchester: Der Dirigent berichtet von kritikversessenen Schweizer Musikern, von diskussionsfreudigen Franzosen und den perfekt durchorganisierten angelsächsischen Ensembles. Natürlich kommt auch der optimistische Axelrod nicht daran vorbei, eine Krise der Institution Orchester zu diagnostizieren. Schuld daran seien sämtliche Beteiligten: von karrieresüchtigen Dirigenten über sparfreudige Kultusminister, die Journalisten mit ihrem Hang zum Boulevard bis hin zu Plattenfirmen, Veranstaltern und Agenten, denen es an Kunstverstand mangelt. Schuld seien aber auch die Komponisten, die im Bestreben, “unbedingt innovativ zu sein, oftmals weiter gingen, als das Publikum es akzeptierte”.
Axelrod schiebt den Schwarzen Peter also in alle Richtungen, nur nicht zum Publikum, dessen Fähigkeit zur konzentrierten Auseinandersetzung mit Musik allerorten abnimmt. Den regressiven Wunsch nach Schönklang und Wiederholung, der sich durch musikalische Bildung durchaus beeinflussen ließe, nimmt er als gottgegeben hin. Und wenn Nono und Cage die Zuschauer aus dem Saal treiben, dann solle man, schlägt Axelrod vor, halt einen elektronischen Remix von Beethovens Neunter aufs Programm setzen.
Axelrods Ideen, wie man das Orchester durchs 21. Jahrhundert retten könne, offenbaren amerikanischen Pragmatismus. Das Problem der Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf öffentliche Gelder scheint ihn ebenso wenig zu interessieren wie der Gedanke, dass Musikensembles vielleicht ebenso förderwürdig seien wie “systemrelevante” Banken. Sein Blick richtet sich stattdessen auf privatwirtschaftliche Geldquellen. So schlägt er vor, Orchester wie Sportmannschaften zu organisieren: mit Fans als Aktionären, Bandenwerbung im Konzertsaal und einem Chefdirigenten, der vom Publikum gewählt wird.
Antje Rößler