Bartolo Musil
„Wie ein Begehren“
Sprache und Musik in der Interpretation von Vokalmusik (nicht nur) des Fin du Siècle
Die Repertoire-Schwerpunkte des Baritons Bartolo Musil liegen im Barock und der Neuen Musik. Das ist bezeichnend für seine Schrift, in der er die Vokalmusik der Jahrhundertwende und vor allem Theoretiker des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt einer generellen Darstellung der Stufen zwischen gesprochenem Wort und textloser Vokalise nimmt. Musils praktische Erfahrungen einer Gesangsprofessur am Salzburger Mozarteum schließen die nur theoretische Darstellung aus.
Es geht Musil um die physiologische, sinnfällige und ästhetische Erschließung vor allem der Zwischenbereiche. Insofern ist es stimmig, dass er den Verhältnismäßigkeiten von Artikulation und Tongebung ohne epochale Charakterisierungen nachgeht. Er legt also einige theoretische Lücken frei. Dazu liefert er an einigen differenziert ausgewählten und analysierten Hörbeispielen methodische Anregungen.
Musil nähert sich seinem Thema über die von Richard Wagner in Oper und Drama für das 19. Jahrhundert paradigmatisch fixierte Dichotomie von Text (= männlich) und Musik (= weiblich). Danach holt er mit Texten von Roland Barthes zu einer Differenzierung aus, die nicht nur zwischen sängerischer Kapazität und Interpretation, sondern überdies zwischen Individualität und vokaler Physiognomie unterscheidet. So deutet Musil die Vernachlässigung einer textlichen Akzentuierung nicht automatisch als Nachlässigkeit oder Inkompetenz, sondern als Entscheidung für bzw. gegen eine Ausdrucksmöglichkeit.
Der Aufbau des Buches folgt den Kategorien Alltagssprechen, gestütztes Sprechen, monotone Rezitation, Rezitativ, sprachorientiertes Singen bis in die Sphären des klangorientierten Singens und der Vokalise. Für die Jahrzehnte um 1900 sind vor allem die Kapitel der mittleren Kategorien relevant, da Komponisten von Humperdinck bis Berg anstelle des Primats klanglicher Phrasierung nach neuen Formen des vokalen Ausdrucks zwischen Singen und Sprechen suchten. Besonders spannend wird es bei Werken, bei denen Anmerkungen von Komponisten oder stilistische Vorgaben versagen. So bei Pierrot lunaire, zu dem Schönbergs ästhetische Überlegungen allenfalls Näherungswerte zur Realisierung beinhalten. Ähnlich verhält es sich bei Rezitativen aus Werken vor 1800, bei denen die von der historisch informierten Aufführungspraxis gelieferten Informationen für eine dynamisch-praktikable Ausgestaltung mitunter sogar hinderlich sein können.
Für seine Darstellung erweist sich Musils Affinität zur französischen Diktion des Baritons Gérard Souzay, zu den Mélodies-Kompetenzen von François Le Roux und der textakzentuierten Phrasierung der Sopranistin Renata Scotto als Gewinn. Vertrauen in seine umfangreiche Arbeit schafft überdies die Tatsache, dass er fast ohne die für ihre Gestaltung von Diktion und Wechseln zwischen den Kategorien oft erwähnten vokalen Leuchttürme Dietrich Fischer-Dieskau und Maria Callas auskommt.
Roland Dippel