Werke von Elfrida Andrée, Vittoria Raffaella Aleotti, Fanny Hensel, Lili Boulanger, Alicia Keys u. a.

Who’s afraid of …? Boulanger Trio

Karla Haltenwanger (Klavier), Birgit Erz (Violine), Ilona Kindt ­(Violoncello)

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Berlin Classics
erschienen in: das Orchester 5/2025 , Seite 77

Die neueste CD des Boulanger Trios folgt der aktuell auch im Konzertleben greifbaren Tendenz, bei der Gestaltung von Programmen verstärkt auf Werke aus der Feder komponierender Frauen zurückzugreifen. Die längst fällige Notwendigkeit zur Revision eines männlich dominierten Blicks auf die Musikgeschichte erfährt durch den Titel der Produktion (Who’s afraid of …?) eine Zuspitzung und wird durch eine entsprechende Musikauswahl unterstrichen. Gedanklicher Mittelpunkt sind zwei gewichtige Klaviertrios aus dem 19. Jahrhundert, nämlich das 1850 aus dem Nachlass herausgegebene Trio d-Moll op. 11 von Fanny Hensel und das 1884 komponierte Trio Nr. 2 g-Moll der schwedischen Komponistin Elfrida Andrée. Um diese beiden mehrsätzigen Werke herum sind zahlreiche kürzere Stücke angeordnet, bei denen es sich allesamt um Bearbeitungen von Vokalmusik unterschiedlichster Herkunft handelt. Sie decken ausgewählte Stationen einer Zeitspanne ab, die sich von Madrigal und Kantate des 17. Jahrhunderts (vertreten durch Vittoria Aleottis Io v’amo vita mia und Barbara Strozzis Che si può fare?) über das Lied um 1800 (Erinnerung an das Schicksal von Maria Theresia Paradis) und drei Nummern aus Lili Boulangers Liederzyklus Clairières dans le ciel (1913/14) bis hin zum Chanson (Göttingen von Monique Andrée Serf alias Barbara), Vokalise (Postscriptum von Lera Auerbach, 2006) und Popsong der Gegenwart (Alicia Keys’ Titel Fallin’) erstreckt.
So eindrucksvoll das hier gezeichnete Panorama weiblichen Komponierens auch ist: Jenseits der beiden starken, differenziert und voller Intensität vorgetragenen Klaviertrios beginnt das Album zu zerfallen, weil ihm der zwingende Zusammenhang fehlt. Ergebnis ist ein anekdotisch wirkendes Mosaik aus vielfach wechselnden Eindrücken, das sich nicht recht zu einer Einheit zusammenfügen will. Problematisch ist darüber hinaus, dass die erklingenden Bearbeitungen gerade die historisch frühen Beispiele in einem solch starken Maße verfremden, dass die speziellen Eigentümlichkeiten der Musik – resultierend aus dem Umgang mit dem Wort-Ton-Verhältnis im Rahmen einer Harmonik, die von nicht temperierter Vokalität geprägt ist – überhaupt nicht wahrgenommen werden können. Und selbst die moderneren Klanggeflechte von Boulangers Liedern verlieren in einer rein instrumentalen Darbietung viel von ihren besonderen Reizen. Immerhin demonstriert die Produktion, wie vielseitig das Boulanger Trio agiert und wie flexibel sich die Musikerinnen klanglich an alle hier präsentierten Stilistiken anzupassen vermögen. Für das uneinheitliche Erscheinungsbild des Albums entschädigt dann zumindest auch der fundierte Essay „Raum schaffen für Komponistinnen“, den die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld für das Booklet verfasst hat.
Stephan Drees