Hermann Danuser/ Matthias Kassel (Hg.)

Wessen Klänge?

Über Autorschaft in Neuer Musik. Internationales Symposion der Paul Sacher Stiftung, Basel, 27.-29. April 2011

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott
erschienen in: das Orchester 12/2017 , Seite 59

Wie man es auch dreht und wen­det – der Philosoph Hans-Georg Gadamer lag falsch mit seiner Annahme, niemandem käme es in den Sinn, den Komponisten eines Musikwerks dessen Autor zu nennen. In Osteuropa heißen Konzerte, die ausschließlich einem Komponisten gelten, seit langem „Autorkonzerte“. Schon Gustav Mahler bezeichnete sich in einer Partituranmerkung zum Finale der zweiten Symphonie als Autor. Leonin und Perotin allerdings dürften Gott als Urheber ihrer Organa betrachtet haben. Erst mit dem Hervorbrechen des Ichs in der Renaissance und vollends mit der Erfindung des Notendrucks, die es möglich machte, Vorsorge für das eigene künstlerische Nachleben zu treffen, trat der Komponist als selbstbewusster Werkschöpfer auf.
Dass der Begriff der Autorschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts zu changieren begann, dass „multiple Autorschaft“ heute keine Chimäre mehr ist, wie die Herausgeber zur Einführung in die Thematik des Sammelbands konstatieren – das bewegte die Paul Sacher Stiftung, dem (urheberrechtlich relevanten) Phänomen 2011 in einem dreitägigen Symposion auf den Grund zu gehen.
Die Frage „Wessen Klänge?“ zielt auf die verschiedenen „Textdimensionen“ von Musik, genauer: der Avantgarde- oder Metamusik des 20./21. Jahrhunderts, die über Klang und Notenschrift hinaus auch Wortschrift und Bild einbezieht. „Ein Ziel“ des Buchs sei es, so die Herausgeber, Autorschaftsprobleme mit Neuer Musik „im Blick auf geschichtliche oder ästhetische Horizonte in Abgrenzung gegen alte und klassisch-romantische Musik einschließlich deren ‚Interpretationskultur‘ näher zu bestimmen“.
Uneindeutig wird die Autorschaft schon bei „Musik über Musik“. In Henzes Präludien zu Tristan, Killmayers Nocturnes An John Field, Rihms Fremder Szene III und Widmanns Schumann-Reminiszenzen Idyll und Abgrund sieht Siegfried Mauser „synchrone Vielfalt“ fremder und eigener Tonfälle am Werk. „Multiple Autorschaft“ macht Camilla Bork für Christoph Marthalers Inszenierung von Schönbergs Pier­rot lunaire geltend. Angela Ida de Benedictis bringt den Unmut Berios über Interpreten-Willkür zur Sprache, die ihn veranlasste, die „Spielräume der Flexibilität“ in der Sequenza I für Soloflöte einzuengen. Schales Ergebnis: Aufführungen der revidierten Form wirken gegenüber der Erstfassung „wie eingegipst“.
Interferenzen von Bild und Klang beobachtet Gottfried Boehm an Kagels „visuell-akustischer Arbeit“ Zwei-Mann-Orchester. Simon Obert erörtert einen britischen Urheberstreitfall im Bereich populärer Musik, bevor drei „Fallstudien“ zu Streichquartetten von Boulez,
Lachenmann und Steve Reich den Aufsatzteil beschließen. Drei Gespräche runden den aufschlussreichen Themenkomplex ab: Pierre Boulez und Heinz Holliger über „Der Komponist als Interpret“ (und umgekehrt), Theodor Ross zu Kagels Zwei-Mann-Orchester und ein Podiums-Streit um Urheberschaft und Interpretation.
Lutz Lesle