Richard Wagner

Wesendonck-Lieder Alban Berg/Sieben frühe Lieder Gustav Mahler/Rückert-Lieder

Anja Harteros (Sopran), Münchner Philharmoniker, Ltg. Valery Gergiev

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Münchner Philharmoniker
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 70

Erinnern Sie sich an den Beginn Ihrer großen Liebe? Rauschhaft, heimlich, sehnend – zwiegespalten in der Seele: Sich nicht sicher seiend und doch gleichzeitig voller Verlangen nach dem anderen ich?
Richard Wagner, Alban Berg und Gustav Mahler haben diesem farbig schillernden Emotionsozean mit ihren großbögigen Liedern Denkmäler gesetzt: allgemeingültig über Zeiten und Moden hinweg, eindringliches Zeugnis eigener Emotionalität, künstlerisch überformt und individualisierbar. Zugleich bilden alle drei Sammlungen Schlüsselkompositionen der jeweiligen Komponisten: In Wagners Liedern spiegeln sich die Facetten des Tristan; drei der sieben Lieder Bergs waren in seinem ersten öffentlichen Konzert zu hören und in Mahlers Rückert-Liedern liegt die Identifikation mit seiner persönlichen Liebesgeschichte nahe.
Mit der warmen, bekannt weiten Farbpalette ihrer stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten nimmt Anja Harteros nun die Hörerinnen und Hörer mit in die Abgründigkeit der Fin-de-Siècle-Opulenz, in die Euphorie der Liebe, den Rausch und die Zerbrechlichkeit des heimlichen, erfüllten Sehnens. Wir hören eine wissende, erfahrene Liebende, die mit stimmlich opulenter Leidenschaft mit den kongenial agierenden Münchner Philharmonikern in die emotionale Tiefe der Werke hineinspürt. Valery Gergiev zeichnet opernhaft-große Landschaften der Seele, in denen Harteros stimmgewaltig aus dem Vollen schöpfen kann.
Operngröße als Basis für Liedinterpretationen? Wagners Wesendonck-Lieder sind trotz kammermusikalisch-inniger Dialoge groß gedacht – wenn man natürlich in großer Emphase auch die feinen Nuancen beispielsweise in „Der Engel“ oder „Träume“ nicht übersingen darf. Gergiev zeigt sich mit seinen Musikern folgerichtig souverän und tariert auch die Tiefen, die intimen Dialoge zwischen Orchester und Instrumentalsoli und Solistin im Piano fein aus – beste Voraussetzungen, um Harteros’ Stimme sich in Ruhe aus dem Klang entwickeln zu lassen: So entstehen musikalische Melodramen.
Voller Emphase auch der Zugriff auf die seltener zu hörenden Berg-Lieder: Durch den noch deutlich in der Spätromantik verhafteten Gestus schillert eine retrospektiv agierende, die Leidenschaft in Gedanken beschwörende, aber doch längst nicht mehr von ihr erfüllte „Marschallin“ durch Harteros’ intensive Interpretation.
Gustav Mahlers Rückert-Lieder zeigen Harteros im gestenreichen Ringen um die Liebe noch einmal feinfühlig und mit fantastisch sicherem semantischen Gespür ausgestaltend. Das Ringen und schließlich die Katharsis der leidenden Seele meint man in „Um Mitternacht“ beinahe körperlich zu spüren. In der überragenden musikalischen Interpretation spielen hier die doch große Vibratoamplitude, die schmaler wirkende dynamische Flexibilität der vielfach erprobten so reichen Stimme der souveränen Interpretin allenfalls eine Nebenrolle.
Christina Humenberger