Haenchen, Hartmut

Werktreue und Interpretation

Erfahrungen eines Dirigenten, 2 Bände im Schuber

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Pfau, Saarbrücken 2013
erschienen in: das Orchester 05/2014 , Seite 64

Zwar dürften die meisten musikinteressierten Deutschen den Namen Hartmut Haenchen kennen und ihn möglicherweise auch in Zusammenhang mit dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach bringen, das der gebürtige Dresdner seit 1980 leitete, doch nach den bekannten Größen des Dirigiergeschäfts in den vergangenen 30 Jahren befragt, würde wohl kaum jemand den 1943 geborenen ehemaligen Cruzianer in Erwägung ziehen.
Das mag daran liegen, dass er seinen wichtigsten Engagements vor allem im Ausland nachging; etwa als Chefdirigent der Niederländischen Philharmonie, Generalmusikdirektor der Niederländischen Oper Amsterdam, aber auch als Gastdirigent etwa am Royal Opera House Covent Garden oder der Opéra National de Paris. Ein weiterer Grund könnte sein, dass er sich weit weniger als viele andere Dirigenten auf ein bestimmtes Repertoire festlegte: Haenchen machte eigentlich immer alles – von Bach bis heute – und passte damit in keine Schublade. Und schließlich dürfte auch seine Neigung, stets klar und lautstark Stellung zu politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu beziehen, dazu beigetragen haben, dass er gelegentlich mit Misstrauen beäugt wurde.
So bieten diese beiden Bände denn auch nicht nur verschiedenste Texte zu Musik, Komponisten, Werken und Interpretationen, die Haenchen im Laufe seiner Karriere für Programmhefte, CD-Booklets oder Zeitschriften verfasste sowie in Briefen und Interviews äußerte, sondern auch politische und gar semi-philosophische Einlassungen zu Kunst, Gesellschaft und Kultur. Man kann in diesen Bänden also sowohl Texte zur Aufführungspraxis bei Bach finden als auch zu Neueditionen von Partituren, Choranweisungen für Wagners Holländer oder Gedanken zur Verwendung des Taktstocks (inklusive Längendiskussion); man kann über Haenchens Ur- und Erstaufführungen von 1969 bis 1981 ebenso nachlesen wie über seine Gedanken zum 30-jährigen Bestehen des Kammerorchesters Carl Philipp Emanuel Bach, gegen den Kulturabbau oder gegen den Bau der Waldschlösschenbrücke in Dresden, und auch einige Tagebucheinträge sind hier zu finden. Sicherlich bieten sich diese Bücher also – außer für eingefleischte Haen­chen-Groupies – nicht unbedingt zur durchgängigen Lektüre an.
Einige der Texte riechen verdächtig nach Selbstbeweihräucherung, und so manche seiner Ansichten – insbesondere zur Aufführungspraxis vorklassischer und klassischer Musik – lassen eine Kenntnis des aktuellen Standes der Forschung und Spielpraxis vermissen; und wurden natürlich auch bereits von weit kompetenteren Geistern besprochen. Dennoch mag der eine oder andere Dirigierstudent, Orchestermusiker oder schlicht Musikfreund hier durchaus spannende und interessante Aspekte für seine Arbeit/sein Hobby entdecken – und die weniger spannenden lassen sich leicht überblättern. Vielleicht also eher ein Buch, das man in der Bibliothek ausleiht als eines, das man käuflich erwirbt, aber doch in vielem anregend, und in jedem Falle eines: vielseitig.
Andrea Braun