Konrad, Ulrich

Werkstattblicke

Haydn, Beethoven und Wagner beim Komponieren beobachtet, mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 2014
erschienen in: das Orchester 03/2015 , Seite 66

Gleichermaßen konzise wie im besten Sinne unterhaltsam sind die Beobachtungen und Erkenntnisse, die hier in der schriftlichen Fassung eines Vortrags von Ulrich Konrad vorliegen. Drei Komponisten bei ihrer Arbeit gleichsam über die Schulter zu schauen und mittels solch eines Blicks in die Werkstatt – so beispielhaft das im Einzelfall immer nur sein kann – gleichwohl auch zentrale Merkmale musikschöpferischer Arbeit zu fassen, wie sie im Begriff der „Komposition“ in seiner wörtlichen Bedeutung als „Zusammensetzung“ ja gefasst sind – nichts weniger nimmt sich der Autor vor –, gelingt Konrad auf eine famose Weise.
Zunächst dadurch, dass Konrad anschaulich macht, auf welche Art Joseph Haydn, ganz praktisch, musikalische Elemente auf einem aufgeklappten Doppelbogen Notenpapier zusammenstellt (beispielhaft: Beginn Exposition, 4. Satz, Symphonie Nr. 99). Auf solchem „Spielfeld mit verschwommenen Rändern“ gewinnt der Formverlauf schrittweise Gestalt: Haydn überbrückt Zwischenräume, entwirft die Streckenführung der im Zeitverlauf auszuführenden musikalischen Bewegungen, fügt dies alles abschließend mit Blick auf das Zueinander in die endgültige Ordnung, indem er die Einzelelemente durchnummeriert.
In einer zweiten Lupeneinstellung zeigt der Autor dann unter Auswertung der diesbezüglich erhaltenen zahlreichen Skizzen, wie minutiös Beethoven einen nur wenige Sekunden dauernden Moment im musikalischen Verlauf (beispielhaft: Repriseneintritt, 1. Satz, Symphonie Nr. 3 op. 56) kompositorisch „inszeniert“: Stationen schöpferischen Nachdenkens über diese Schlüsselstelle im Formverlauf lassen ein Arbeitsverfahren erkennen, das dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ folgt und im Ergebnis dazu führt, dass der Komponist den Moment höchster harmonischer Spannung und Entspannung in eins schiebt und im Kadenzvorgang durch das legendäre Überlagern von Dominante und Tonika das Übliche denn auch bewusst überschreitet.
Schließlich führt Konrad mit dem Beispiel Richard Wagners und seiner Arbeit am Musikdrama Tristan und Isolde vor Augen, in welchem Maße – jenseits allen künstlerisch-ästhetischen Gestaltungsvermögens – (auch) rationale Optimierung und ökonomische Organisation von Arbeitsvorgängen zur kompositorischen Arbeit gehören. Denn wie sonst ohne jene strengste Disziplin hätte Wagner dem gewaltigen Anspruch gerecht werden und jenes unfassbare Pensum leisten können: nämlich als Dichter das komplette Textbuch und als Komponist dessen musikdramatische Umsetzung zu gestalten. Überbordende Emotionalität und das Kalkül unnachgiebiger Zeitplanung im Produktionsablauf, so wird in diesem Fall deutlich, ergänzen sich in frappierender Weise.
Kurzum: So schmal die Darstellung, angereichert durch Wiedergabe bzw. Transkriptionen des entsprechenden Skizzenmaterials und eine CD mit illustrierenden Klangbeispielen, so erhellend wirkt ihre Lektüre.
Gunther Diehl