Hans Jürgen von der Wense
Werke
Steffen Schleiermacher (Klavier, Blechsieb), Holger Falk (Bariton), Walter Seyfarth (Klarinette), Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Ltg. Johannes Kalitzke; Jan Philipp Reemtsma, Lesung
Das Wirken des 1894 in Ostpreußen geborenen Komponisten, Schriftstellers und Übersetzers Hans Jürgen von der Wense gerät ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod wieder ins Blickfeld; diese CD dokumentiert in Ton und gelesenem Text die Eigenheiten dieses einzelgängerischen Künstlers und Denkers.
Der junge Wense beteiligt sich 1919 am Münchner Spartakusaufstand, geht dann nach Warnemünde und zieht im Zweiten Weltkrieg nach Göttingen, wo er bis zu seinem Tod 1966 lebt. Stets auf der Suche nach einer neuen Musiksprache, steht er vereinzelt in Kontakt mit Protagonisten der Szene wie Hans Heinz Stuckenschmidt, Hermann Scherchen, an dessen Zeitschrift Melos er zeitweilig mitarbeitet, oder Luigi Nono, mit dem er Briefe wechselt.
Ein vom Publizisten Jan Philipp Reemtsma gelesenes Kernstück der CD ist ein Brief, den Wense 1919
an den Pianisten und Komponisten Eduard Erdmann (1896-1958) schrieb. Wenses eigenwillige Musikphilosophie setzt Buxtehude über Bach, Gluck über Mozart, Schubert über Beethoven; Heinrich Schütz ist ihm der Größte, die muffigen Regerianer oder die pleonastischen Parfümerien des Intelligents Strauss lehnt er ab, er sieht in Bruckner und Mahler die Endpunkte einer Entwicklung, gegen die nun Neues zu setzen sei. Schönbergs kleine Klavierstücke, aber auch Skrjabins letzte Sonaten in ihrer hymnischen Zerrissenheit bedeuten ihm viel, wenn er auch dem Wiener Komponisten, dem er 1915 eigene Klavierstücke vorgespielt hatte, eine Flucht in esoterische Einsamkeit vorwirft.
Wense will weg von der Musik als Warenhaus bourgeoiser Sentiments, er postuliert, jeder Ton solle Ursubstanz sein, jede Kurve Ausprägsamkeit, jeder Klang Abhärtung. Er bezeichnet sich im Brief selber als Dadaisten, wenngleich die Sprache des 25-Jährigen Hauptsache: dass das Blut in unserer Brust brennt expressionistische Einflüsse verrät.
Wenses frühe Musik auf dieser CD die von Steffen Schleiermacher souverän dargebotene Musik für Klavier I-V (1915), die an George Grosz erinnernde Klavier-Groteske Ich hatt einen Kameraden von 1919 sowie eine kurze Musik für Klavier, Klarinette und Blechsieb (auf das letztgenannte Instrument hielt Wense große Stücke) ist am ehesten der Stilistik um den frühen Schönberg bzw. den wilden 1920er Jahren zuzuordnen.
Die vom Bariton Holger Falk klangschön und sachlich beherrschten Lieder unter anderem nach William Butler Yeats stehen demgegenüber für einen sparsamen, ganz in die Texte hineinhörenden, auch tonale Elemente integrierenden Personalstil der 1940er Jahre.
Aufschlussreich ist der Vergleich der frühen Klavierstücke mit einer Orchestrierung Steffen Schleiermachers aus dem Jahr 2016. Schleiermacher zeichnet auch für die ausgezeichneten Booklet-Texte verantwortlich.
Rainer Klaas