Werke von Yiran Zhao
Ensemble Recherche, Neue Vocalsolisten, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Ltg. Peter Rundel
1988 in China geboren, begann Yiran Zhao ihre Musikstudien in Peking, setzte sie an den Musikhochschulen Stuttgart und Basel fort und erwarb ihren Master an der Linzer Anton Bruckner Privatuniversität. In ihrer schöpferischen Arbeit nutzt und erweitert sie die Potenziale herkömmlicher Instrumente, indem sie deren Schallkörper erkundet, verbunden mit visuellen Eingebungen, insbesondere Lichtwirkungen, und körpersprachlichen Ausdrucksformen. Ähnliches gilt für ihren Umgang mit der menschlichen Stimme.
Viele ihrer Stücke bewegen sich in der Übergangszone von Instrumentalmusik, Performance, Klanginstallation und Videokunst. Sie wenden sich zugleich ans Hören und Sehen, vermitteln ganzheitliche und zugleich vieldeutige Sinneserfahrungen (Videos können online abgerufen werden). In Ohne Stille II (2015) zum Beispiel traktieren zwei Spieler Fell, Rahmen und Korpus einer Trommel mit verschiedenen Schlägeln und bloßen Händen, Nebengeräusche wie das Quietschen der Scharnierschrauben inbegriffen. Eine im Trommel-Inneren angebrachte Lichtquelle durchleuchtet das Resonanzfell, das auf diese Weise einer Vollmondlandschaft ähnelt. Bühnenscheinwerfer setzen lichtspielende Kontrapunkte in eigenständiger Rhythmik.
Meist beschränkt sich die Chinesin, die sich als „Composer-Performer“ versteht, auf wenige Klangwerkzeuge, die sie indes ausgiebig reizt, abhorcht und erforscht. Wie in ihrem Duo Piep (2015) für zwei elektrische Metronome – ein hybrider Nachfahr von György Ligetis legendärem Poème symphonique für hundert mechanische Taktgebieter.
Immer geht es der Komponistin um Bewegung, sei sie körperlicher, melodischer oder akustischer Natur. In Fluctuation Ia (2015/16) zum Beispiel gerät eine aufgehängte, mit einer tiefen Flügelsaite verdrahtete Keksdose während des Tastenspiels ins Schaukeln. Ihre Schwünge sind von den anderen Instrumenten des Ensembles aufzunehmen und in entsprechende Intervallgrößen zu „übersetzen“.
Auch die Schallereignisse des zehnminütigen, melodramatischen Orchesterstücks Oder Ekel kommt vor Essenz (2017/18) sind nicht „rein musikalischer“ Natur. Das Lautmaterial entnahm Yiran Zhao Texten eines frankofonen Dichters aus dem Kongo. In Behind the apples (2018) verpasst sie den Vokalisten Kontaktmikrofone an Kopf, Hals und Adamsäpfeln.
Das Berührungsstreben der Künstlerin schlägt sich in einer Reihe von Stücken nieder, die der Sammeltitel Touch vereint. Das Solostück Joik (2014) für Rahmentrommel ähnelt eher den Trommelgesängen der Inuit als den Geistanrufungen der Samen. Magie ist auch im Spiel, wenn in Pluri (2016/17) ein Solotänzer mit seinem Alter ego verkehrt, indem seine Körperteile verschränkt über Leinwände geistern, als seien sie der Sentenz „Moi est un autre“ (Ich bin ein anderer) von Arthur Rimbaud entsprungen.
Außer den im Titelkopf ausgewiesenen Ensembles, die Zhaos intermediale Klangvisionen und Bildfantasien getreulich verwirklichten, gebührt auch dem Trommler Christian Dierstein und dem Solotänzer Kai Chun Chuang Lob und Dank.
Lutz Lesle