Werke von Beethoven, Tschaikowsky, Schmidt und Stephan
Berliner Philharmoniker, Ltg. Kirill Petrenko
Im Juni 2015 wählten die Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko zu ihrem neuen Chefdirigenten. Im August 2019 trat er mit einer vom Publikum und der Presse umjubelten Aufführung von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie d-Moll op. 125 das Amt an. Danach schrieb der Guardian über den Dirigenten, dass er die Gabe habe, das Innere einer Partitur zum Leuchten zu bringen. Der Mitschnitt dieses interpretatorischen Ereignisses findet sich auch in der hochwertigen Hardcover-Edition mit fünf CDs sowie Videomitschnitten auf zwei Blu-Ray-Scheiben. Eine „klingende Moment-aufnahme der beginnenden Zusammenarbeit zwischen den Berliner Philharmonikern und mir, gleichsam die Initialzündung unserer Gemeinschaft“, nennt Petrenko die exquisite Kompilation. Dabei werden wichtige Repertoirefelder offenbar, zuvörderst die deutsch-österreichische Klassik und Romantik.
Klangschönheit und rhythmischer Bewegungsdrang stehen bei der prozesshaften Deutung von Beethovens Neunter im Mittelpunkt aller gestalterischen Bemühungen. Spannungsreich und detailbrillant sind dramatische Zuspitzungen, Ermattungen, apollinisch funkelnde Innigkeit mit tempogerechter Hingabe und raffinierter dynamischer Abstufung musiziert. Schillers elysäische Utopie der „Freude schöner Götterfunken“ wird von exzellenten Solisten (Marlis Petersen, Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns, Kwangchul Youn) und dem stimmfuriosen Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Gijs Leenaars) angestimmt. Ohne effekthascherisch zu sprinten oder schleppdampferisch durch Klangmeere zu schippern, führt die zweite Traditionsroute in die Seelentiefe der Musik Russlands, mit der der in Omsk geborene Petrenko aufgewachsen ist.
Repräsentiert wird sie durch Peter Tschaikowskys 5. und 6. Sinfonie. Transparenz und Gefühlsintensität wohin man hört. Hier wie dort lichtet sich anfängliches Schicksalsdräuen, nimmt allmählich kontrastdramaturgische Konturen an, schwelgt in Erinnerungen und Walzerseligkeit. In der Fünften wird erfolgreich gegen das Fatum aufbegehrt, in der Pathétique obsiegt es: ein intensiv musizierter finaler Abgesang bis hin zum mutlosen Verlöschen. Ergreifend.
Ein weiteres Petrenko-Anliegen sind zu Unrecht vergessene Komponisten, beispielsweise jene zwischen Spätromantik und Moderne angesiedelte. Wie Franz Schmidt mit seiner 4. Sinfonie C-Dur, die stark von persönlichen Erlebnissen (Tod der Tochter) geprägt ist. In vier nahtlos verbundenen Sätzen offenbaren sich Requiem-Duktus mit lieblichen Erinnerungen, beklemmender Trauermarsch mit Scherzofröhlichkeit. Zum anderen ist es Rudi Stephans episodenreiche, effektvoll instrumentierte, zwischen keck und motorisch mäandernde Musik für Orchester. Ein überzeugendes Plädoyer für vergessene Tonsetzer!
Als Bonus gibt es auf der Blu-Ray ein längeres Gespräch mit Petrenko. Neben kurzen Werkeinführungen enthält das Booklet noch zwei informative Essays über „Eine soziologische Perspektive auf die Symphonie“ und „Alles andere als endgültige Bemerkungen zum Finalproblem in der Symphonie“.
Peter Buske