Richard Strauss

Werke/Kritische Ausgabe, Serie II: Lieder und Gesänge für eine Singstimme

Bd. 2, Lieder mit Klavierbegleitung op. 10 bis op. 29, hg. von Andreas Pernpeintner

Rubrik:
Verlag/Label: Verlag Dr. Richard Strauss
erschienen in: das Orchester 01/2018 , Seite 65

Gerade in Anbetracht der stellenweise recht komplizierten Entstehungsgeschichte und Quellenlage mancher Lieder von Richard Strauss ist der vorliegende Band der Strauss-Gesamtausgabe außerordentlich zu begrüßen. Denn auch hier gilt wie bei den Orchesterwerken: Zwar ist vieles im Druck erhältlich, aber eine Ausgabe, die musikwissenschaftliche und editionsphilologische Vorgaben erfüllt, wurde bisher schmerzlichst vermisst. Bei den Liedern kommt hinzu, dass durch die Gesamtausgabe nun endlich die ganze Brandbreite von Strauss’ Liedschaffen zugänglich wird, nicht nur der schmale Kanon des bekannten Repertoires.
Richard Strauss hat sich während seines gesamten Lebens mit dem Lied beschäftigt, sodass diese Gattung unter bestimmten Aspekten auch seinen kompositorischen Wer­degang spiegelt. Dass viele Lieder heute kaum noch zur Aufführung kommen, liegt sicherlich weniger an der Qualität der Kompositionen als an den vertonten Texten. Autoren wie Hermann von Gilm und Karl Henckell sind heute nicht zu Unrecht vergessen und Felix Dahn allenfalls noch mit seinem Roman Ein Kampf um Rom bekannt. Diese Dichter gehörten aber einst, das sollte nicht vergessen werden, zur literarischen Moderne. Mit vielen stand der Komponist in persönlichem Kontakt, und Strauss’ Offenheit gegenüber diesen Texten ist auch ein Beweis dafür, dass er einst avantgardistischer „junger Revolutionär“ war.
Der Kritische Bericht ist bezüglich der Dokumentation von Quellenbestand, -beschreibung, -bewertung, Editionsweise und editorischer Eingriffe auch bei diesem Band vorzüglich. Verwiesen sei ausdrücklich auf das kostenlose digitale Angebot, das Briefe, Rezensionen, Bilder, Liedtexte usw. umfasst, aber auch auf das Richard-Strauss-Quellenverzeichnis, das am Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen in Form eines Online-Kataloges dokumentiert wird.
Spannend bei dem vorliegenden Band ist die Dokumentation der Eintragungen in die Handexemplare von Pauline Strauss, der Ehefrau des Komponisten, die eine professionell ausgebildete Sopranistin und eine hervorragende Interpretin seiner Werke war. „Mit ihr erarbeitete Strauss selbst Interpretationen seiner Klavierlieder […] und mit Liedern gab das Ehepaar in ganz Europa, ja sogar in Amerika Konzerte. Pauline galt Strauss lange Zeit als die ideale Interpretin seiner Lieder und stand als solche auch bei der Komposition Pate“, so Andreas Pernpeintner in der Einleitung. Diese Eintragungen geben einen reizvollen Einblick in die interpretatorischen Vorstellungen und sind in diesem Sinn als Interpretationshilfen zu verstehen, weniger als editionsrelevante Quellen.
Es ist zu hoffen, dass dieser Band dazu beiträgt, die Lieder von Richard Strauss neu zu hören und unbeachtet polemischer Kritik ernst zu nehmen als das, was sie sind, nämlich zentrale Zeugnisse zur Entwicklung des kompositorischen Schaffens dieses Komponisten.
Michael Pitz-Grewenig