Steinbach, Ludwig
Weinbergs Passagierin
Eine Analyse der Auschwitz-Oper
Die bereits 1968 vollendete Oper Mieczyslaw Weinbergs auf ein Libretto von Aleksandr Medvedev, das wiederum auf dem autobiografisch geprägten Roman der polnischen Autorin Zofia Posmysz fußt, musste lange auf ihre Bühnenpräsenz warten. Nach einer konzertanten Aufführung im Jahr 2006 in Moskau kam sie 2010 bei den Bregenzer Festspielen zur szenischen Erstaufführung. Es geht um eine Schiffspassage von Deutschland nach Brasilien, während welcher die ehemalige Auschwitz-Aufseherin Lisa ihrem totgeglaubten Opfer Marta begegnet.
Hat man Steinbachs kluge Analyse durchgearbeitet, fällt es einem, fasziniert davon, nicht schwer, sich seinem Resümee anzuschließen: Auch wenn man selbst noch nicht die Möglichkeit hatte, die Passagierin auf einer Bühne zu erleben, vermögen Steinbachs Kommentare in Verbindung mit den zahlreichen Notenbeispielen ein Gefühl davon zu vermitteln, dass wir es mit einem ganz großen, bedeutenden Werk zu tun haben.
Und doch können wir des Autors Enthusiasmus nicht so ganz teilen, wenn er in der Einleitung zu seinem Buch festhält: Bei Mieczyslaw Weinbergs Passagierin dürfte es sich um die bedeutendste Oper der Jetztzeit handeln. Seit ihrer Bregenzer Uraufführung im Jahr 2010 notieren wir weitere Aufführungen in Karlsruhe, Frankfurt am Main, Houston, Chicago und London: alles gewiss keine Provinzbühnen. Aber wo bleiben zum Beispiel New York, Mailand, Paris und Berlin, wo vor allem Warschau, angesichts der polnischen Autorin und zweier polnischer Protagonistinnen?! Auf Tonträger ist bislang nur die Bregenzer Aufführung festgehalten.
Das Werk ist bedeutend, aber ist es ebenso bedeutend verkannt? Man stelle sich nur einen Augenblick lang vor, es tauchte in irgendeinem verstaubten Archiv eine Wagner- oder Verdi-Oper auf, inhaltlich-musikalisch vielleicht gar nicht einmal so bedeutsam: Wir hätten innerhalb kürzester Zeit weltweit Hunderte von Premieren! Und das sollte man einem Werk nicht zugestehen können, das zu Recht in einem Atemzug mit Bergs Wozzeck oder Schostakowitschs Lady Macbeth genannt werden kann? Diese Oper gehört auf die großen Bühnen der Welt ebenso wie auf die des entferntesten Stadttheaters, so es nur einigermaßen zu deren Verwirklichung in der Lage ist! Steinbach zeigt die einzigartige Genialität Weinbergs auf, dessen durchdachten und psychologisch fundierten Umgang mit einer durchaus bei Wagner abgeschauten, aber genial weiterentwickelten Leitmotivtechnik. An einer Stelle seines Buchs hält Steinbach fest: Nichts anderes bezwecken Weinberg und Zofia Posmysz, als mit den Mitteln ihrer Kunst einen Kontrapunkt gegen das Vergessen zu setzen. Dies wird erst wenn überhaupt! gelingen, wenn die Passagierin weltweite, flächendeckende Verbreitung findet. Steinbachs Begeisterung für Weinbergs Meisterwerk steckt an. Hoffentlich auch die Programmplaner der deutschen Musiktheater!
Friedemann Kluge