Bach, Johann Sebastian

Weihnachtsoratorium

Rubrik: CDs
Verlag/Label: BR Klassik 900902
erschienen in: das Orchester 06/2012 , Seite 73

Mit seiner Aufführung durch die Berliner Singakademie im Jahr 1857 wurde das Weihnachtsoratorium als letztes der großen Oratorien Bachs für die Praxis wiedergewonnen. Langsam, aber stetig gewann es eine Popularität, die sich heute in einer kaum noch überschaubaren Anzahl von Einspielungen widerspiegelt. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an das interpretatorische wie editorische Konzept der vorliegenden Neuproduktion.
Die Akademie für Alte Musik Berlin agiert mit höchster Perfektion und Virtuosität, artikuliert und phrasiert mit größter Sorgfalt und gibt jedem Satz sein charakteristisches Profil. Der gemeinsame und abwechselnde Einsatz von Orgel, Cembalo und Laute schafft rhythmische Impulse und differenzierte Klangfarben. Der Chor des Bayerischen Rundfunks, klanglich den stilistischen Erfordernissen bestens angepasst, technisch über jeden Zweifel erhaben, setzt im Zusammenwirken mit dem Instrumentalensemble Maßstäbe. Schon im Einleitungschor – und nicht nur dort – gelingt es, über einem markant pulsierenden 3/8-Metrum aus Motiven Phrasen aufzubauen und diese in eine den ganzen Satz erfüllende höchst vitale Dramaturgie zu führen. Auch die schlichten Choräle gewinnen durch sensibles Ausloten der strukturellen und inhaltlichen Details außerordentliches Format. Warum jedoch der Satz „Ich steh’ an deiner Krippen hier“ entgegen der Partitur a cappella gesungen wird, ist nicht zu erklären.
Die Beiträge von Rachel Harnisch (Sopran) sind beeinträchtigt durch ein starkes Vibrato und Intonationsdefizite, die besonders neben dem überragenden Oboensolo in der „Echo“-Arie zutage treten. Anke Vondung (Mezzosopran) folgt den Vorgaben einer „historisch informierten“ Aufführungspraxis, bringt aber eine größere Bandbreite von Dynamik und Klangfarben ins Spiel, sodass ein Violinsolo neben ihr ein wenig fragil wirkt. Der Tenor hat hier das weiteste Ausdrucksspektrum zu vertreten, und Maximilian Schmitt überzeugt als differenziert gestaltender Evangelist wie auch in der atemberaubenden Virtuosität seiner Arien. Christian Immler verfügt über eine helle Baritonstimme und geht die berühmte Trompetenarie eher kultiviert als kraftvoll an. Der Umgang mit den Appoggiaturen ist bei allen Ausführenden von beispielhafter Konsequenz. Nur ganz wenige Fehlgriffe im Continuo lassen die Aufnahme als Livemitschnitt erkennen.
Als Zugabe wird uns auf zwei CDs eine akustische Werkeinführung von Wieland Schmid geboten. Christian Brückners lebendiger Vortrag derselben über historische, biografische, theologische und strukturelle Aspekte des Werks wird gestützt durch geschickt ausgewählte Klangbeispiele. Bachs Parodieverfahren wird im direkten Vergleich mit den Urfassungen erläutert, die erste Fassung eines Rezitativs können wir neben der Endfassung hören. Einzelne Themen, Instrumente und Chorgruppen werden vorgeführt und können dem interessierten Laien ein guter Wegweiser sein. Auch der bereits kundige Hörer wird auf interessante Dinge stoßen. Dieses Konzept sollte unbedingt fortgesetzt werden.
Jürgen Hinz

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