Wolf, Steffen

Wege zum Liedgesang – ein deutscher “Vaccai”

24 Lieder nach Gedichten von Heinrich Heine für Singstimme und Klavier, pädagogische Kommentare von Steffen Wolf in Texten von Carmen Hillers, Hoch/Mittel/Tief, mit CD

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2015
erschienen in: das Orchester 06/2016 , Seite 69

Ein musikpädagogisches Meisterwerk, an welchem kaum ein klassischer Sänger je vorbeikommt, ist die Metodo pratico di canto italiano, die Nicola Vaccai 1832 für seine englischen Schüler schrieb. Zur Motivation wich Vaccai von den üblichen Solfeggien ab und verfasste seine Übungsstücke zu Texten von Metastasio, was damals geradezu als Revolution im Gesangsunterricht galt. Sämtliche Intervalle sowie alle wichtigen Verzierungen des Belcanto führte Vaccai an praktischen Beispielen ein.
Nach dem Start der Reihe „OperAria“ lässt Breitkopf jetzt ein Grundlagenwerk für den Liedgesang folgen, das sich in Aufbau und Methode am Einmaleins des „italienischen Vaccai“ orientiert. Bislang existierte kein vergleichbares Standardwerk der Gesangskunst. Umso erfreulicher ist, dass der Sänger und Komponist Steffen Wolf hier 24 Gedichtzeilen von Heine für Gesang und Klavierbegleitung vertonte, die jeweils ein besonderes Augenmerk auf absolut wesentliche Aspekte der Gesangstechnik legen. Unter den Liedtexten befindet sich die internationale Lautschrift der Worte, sodass dieser längst überfällige „deutsche Vaccai“ auch nicht-deutschen Sängern eine wertvolle und breitgefächerte Palette an Übungsmöglichkeiten bietet.
Jede Ausgabe ist in den Stimmlagen Hoch, Mittel und Tief erhältlich und enthält eine CD (Audio & sing along) mit Aufnahmen der Lieder sowie Playbacks in der jeweiligen Stimmlage, das Heft ist seine 21,90 Euro also unbedingt wert.
Die pädagogischen Kommentare im Anhang jedes der 60 Seiten fassenden, sehr gut leserlichen DIN-A4-Hefte sind zunächst unter Thema 1 jeweils nach Intervallen geordnet. Beginnend mit der Sekunde (in Klammern dahinter die dazu passende Komposition mit Seitenzahl) werden alle Intervalle, einschließlich der Prime und Halbtonschritte, bis hin zur Oktave erläutert. Unter Thema 2 verweist Wolf auf Vorhalte, besondere Akzentuierungen, Rezitative, Stimmen verschiedener Personen innerhalb eines Stücks (zum Beispiel „Das Herz spricht“, „Der Kopf spricht“), Akkordbrechungen und einigem mehr, stets unter Einbeziehung von inhaltlichen
Eigenheiten und sonstigen interpretatorischen Besonderheiten sowie exakter Vokalbildung. Sämtliche Texte sind ins Englische und Französische übersetzt.
Nicht nur für klassische Sänger, auch für Schüler der Popularmusik ist dieses Unterrichtswerk von unschätzbarem Wert, zeigt es diesen doch auf, welch ungeheure Ausdrucksmöglichkeiten ihnen stimmlich zur Verfügung stehen können. Das Wichtigste jedoch ist, dass diese Zusammenstellung nicht nur inspiriert, sondern auch zum stimmlichen und interpretatorischen Experimentieren einlädt. Kammersängerin Edda Moser betont also mit Recht, dass der „deutsche Vaccai“ künftig „Pflichtlektüre“ in jeder deutschsprachigen Hochschule sein sollte.
Kathrin Feldmann