© Maria Stolarzewicz

Ute Grundmann

Was Menschen einander antun können

Die Ausstellung „Spurensuche II“ erinnerte in Weimar an die Schicksale jüdischer Musiker

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 38

Lange Listen mit Namen, oft mit osteuropäischem Klang – mehr ist in vielen Fällen nicht geblieben von Musikern, die in Thüringen lebten und arbeiteten, bis sie von den Nationalsozialisten vertrieben, verfolgt und ermordet wurden. Ihren Spuren ging nun zum zweiten Mal die Wissenschaftlerin und Kuratorin Maria Stolarzewicz nach und fasste ihre Ergebnisse in einer Ausstellung im Weimarer Stadtmuseum zusammen.
Ein Chanukka-Leuchter aus dem 19. Jahrhundert empfängt die Besucher am Ende des langen Ganges, wo in einem kleinen Raum diese „Spurensuche II“ ihren Ort gefunden hat. Dass sie optisch nicht viel mehr zu bieten hat, verbirgt die Ausstellung unter dem nüchtern-program­matischen Titel „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen“ keineswegs. Unterteilt in drei Bereiche, beginnt sie bei den jüdischen Berufsmusikern im damaligen Thüringen. Dass hier seit den 1920er Jahren eine Hochburg der Nationalsozialisten war, lässt sich ganz in der Nähe am „Gauforum“ besichtigen, einem monumentalen, ab 1937 errichteten Gebäudekomplex, der heute u. a. das Landesverwaltungsamt beherbergt.
Im Stadtmuseum lernt man den Komponisten Hans Heller kennen, geboren 1898 in Greiz, 1969 in Berlin gestorben. Zur Eröffnung hatte man seine Werke Schlafen, schlafen, nichts als schlafen sowie Les Aveugles für Gesang und Klavier uraufgeführt; zuvor hatte Peter Gülke über „Nicht kündbares Gedenken – Buchenwald“ gesprochen. Ein Notenblatt und ein getippter Brief an Albert Einstein ist von Heller zu sehen, der in seiner Heimatstadt „Wunderkind“ geheißen und „Saujude“ geschimpft wurde. Der Holocaust sei für ihn zur Obsession geworden, gab der Sohn zu Protokoll.
Nicht einmal das war dem 1907 in Apolda geborenen Geiger Max Peller vergönnt: Er starb am 4. Juni 1945 in Theresienstadt an einer Typhus-Epidemie, vier Wochen, nachdem die Rote Armee das KZ befreit hatte. Als Berufsmusiker wurde er zwar dem Männerorchester des Lagers zugeteilt, durfte als Jude aber nicht auftreten, auch dort nicht.
Retten konnte sich Alma Leser-Heinrich (geb. 1892 in Sondershausen, gest. 1984 in Auckland), die 1938 emigrierte und als Gesangs- und Klavierlehrerin wirkte. Ein Foto von ihr gibt es nicht, aber eine zeitgenössische Rezension, die der auch am Hoftheater Agierenden „pianistisches Talent, mit dem sie zu Herzen sprechen weiß“, bescheinigte.
Andere Lebensnotizen sprechen von nicht verlängerten Verträgen – einziger „Grund“: der jüdische Glaube – oder vom Freitod aus Angst vor der Deportation. Diesen Weg wählte auch die Koloratursopranistin Jenny Fleischer-Alt. Sie war Hofsängerin. Weil das nach ihrer Heirat in der großbürgerlichen Familie als unschicklich galt, wurde sie Gesangspädagogin. Mit besonderem Stolz präsentiert man in Weimar das Gemälde, mit dem ihr Mann, der Maler Fritz Fleischer, sie porträtierte: als unkokette Carmen, mit wach-freundlichem Blick. Fischers Großnichte übergab das Bild 2011 an die Klassikstiftung Weimar.
Diese, nun zweite „Spurensuche“ gehört zu einem gleichnamigen Forschungsprojekt, das 2018 in Weimar begann und seit 2019 am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena angesiedelt ist. Die erste Phase des Projekts ist in einer umfangreichen, sehr lesenswerten Dokumenta­tion festgehalten (siehe das Orchester 11/2020,
S. 59); auch über die zweite Ausstellung, die bis Ende Oktober 2021 im Weimarer Stadtmuseum zu sehen war, soll später eine Publikation erscheinen. Wie mühsam die Suche nach Dokumenten ist, beschreibt die Kuratorin: Im Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten fand sie wichtige Entschädigungsakten verfolgter Musiker; „sieben dicke Mappen“ mit Daten, Fakten, Schicksalen. Die Suche in den Arolsen Archives und der Judaica-Sammlung der Frankfurter Universitätsbibliothek war online möglich.
Maria Stolarzewicz zeigt ebenso die musikalischen Aktivitäten jüdischer Gemeinden und Rabbiner; auch davon muss erzählt werden, wenn „900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“ und „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ gefeiert werden. Teils in moderner Druckschrift, teils in verblichenen Dokumenten ist vom Reformjudentum zu lesen, das auch Predigten in deutscher Sprache und die Begleitung des Kantorengesangs durch Orgel und Gesang eines gemischten Chores vorsah. Darum gab es heftigen Streit, weil nach der Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem alle Instrumente in der Liturgie verboten waren, als Zeichen der Trauer. Dennoch existierte eine „Arbeitsgemeinschaft Pflege jüdischer Musik“, die gemischte Synagogalchöre betreute; gab es „Gesangsunterricht mit religiöser Musik“, Anstellungen von Musiklehrern. Bis der „Vorstand der Synagogen-Gemeinde“ zwangsweise in „Verwaltungsstelle Erfurt der Bezirksstelle Sachsen-Thüringen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ umbenannt wurde, der Oberfinanzpräsident in Magdeburg die „Einziehung des Vermögens ‚abgeschobener‘ Juden“ verfügte.
Wo das endete, zeigt die „Spurensuche“ anhand von „Häftlings-Personal-Karten“, „Effektenkarten“, „SS-Erfassungsfotos“. Allzu oft muss auf den Musikerlisten vermerkt werden „Sterbedatum unbekannt“. Eine Effektenkarte erzählt dagegen bis heute, dass Jaroslav Jiřik 1941 „ein Paket Noten“ sein Eigen nannte; Ignatz Knapp mittels einer roten Karte zum „Arbeitseinsatz“ geschickt wurde. Auch die Anschaffung neuer Instrumente für die Lagerkapelle des KZ Buchenwald wurde penibel registriert. Spielen mussten die inhaftierten Musiker darauf „zum morgendlichen Aus- und abendlichen Rückmarsch“ der übrigen Gefangenen, auch Lagerstrafen mussten sie „begleiten“, vor allem Prügel mit dem Ochsenziemer. So ist es von Überlebenden nachzulesen, auch dass solche KZ-Musik ein Mittel der Disziplinierung und Entwürdigung durch die SS war. Solche Erniedrigungen wie die „Läusekontrolle“ hat der überlebende Musiker Karol Konieczny damals in beinah fröhlich-bunt kolorierten Zeichnungen festgehalten – was Menschen einander antun können.

 

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2022.