Britten, Benjamin

War Requiem

2 CDs

Rubrik: CDs
Verlag/Label: LSO Live LSO0719
erschienen in: das Orchester 11/2012 , Seite 85

Auf dem reichen Markt der Einspielungen von Brittens großem Chorwerk haben nun auch Ian Bostridge und Simon Keenlyside ihre Beiträge abgeliefert, unter dem immer noch längst nicht genügend bekannten Gianandrea Noseda. Der exklusiv für Chandos aufnehmende gebürtige Italiener erweist sich in der im Oktober 2011 im Londoner Barbican mitgeschnittenen Aufführung als Klangmagier von hohen Graden. Und trifft damit den Nerv der fünfzig Jahre zuvor entstandenen Komposition. Gianandrea Nosedas Balance zwischen den beiden musikalischen Strängen, zwischen Symphonie- und Kammerorchester, zwischen lateinischem und englischem Text ist exzellent, sein Gefühl für das Timing der Musik ausgezeichnet. Er betont den dramatischen, opernhaften, affektiven Aspekt der Komposition.
Sabina Cvilaks Leistung überragt – sowohl was die Sorgfalt der Ausgestaltung als auch was die Textverständlichkeit angeht – viele ihrer Vorgängerinnen, Heather Harper vielleicht ausgenommen. Die beiden Herren können da nicht ganz mithalten. Ian Bostridge versucht sich in die Tradi-
tion der eher emotional-affektiven Interpreten der Partie zu stellen, auch wenn seine Stimme nicht ganz die Prägnanz etwa von Peter Pears oder Anthony Rolfe Johnson bieten kann. Simon Keenlyside bietet interpretatorische Raffinesse und schönen Stimmklang, doch liegen manche Passagen für ihn gefährlich tief. Die großen Ausbrüche kann er nicht ganz so frei gestalten wie etwa Thomas Allen oder Gerald Finley.
Der Farbenreichtum des London Symphony Orchestra zeigt, dass wir es hier mit einem der besten Orchester der Welt zu tun haben, das das Werk seit der Weltersteinspielung bestens kennt. Der London Symphony Chorus wurde durch Joseph Cullen hervorragend einstudiert, Textverständlichkeit und dynamische Differenziertheit sind exemplarisch, während der Chor des Eltham College nicht ganz die Qualität der allerersten britischen Knabenchöre hat.
Das Gesamtergebnis ist dennoch ausgesprochen stark und bewegend, vor allem weil das Zusammenwirken aller musikalischen Kräfte stärker wirkt als die Einzelleistungen, sich diese vielmehr dem Sog der Musik und der Interpretation unterordnen. Die angeblich so problematische Aufnahmetechnik im Barbican ist nicht zu hören, im Gegenteil ist der Mitschnitt von erfreulich differenzierter Tiefenstaffelung und Wärme. Als Livemitschnitt ist er nicht zu identifizieren, störende Publikumsgeräusche oder Beifall fehlen. Autoritative Bookletnotizen des ehemaligen Britten-Assistenten Colin Matthews komplettieren die rundum erfreuliche Produktion.
Jürgen Schaarwächter