Stegreif-Orchester © Navina Neuschl

Ekkehard Klemm

Wandel als Herausforderung

Thesen zur Musikerausbildung, zu Ursprung und Praxis der Orchester

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 06

Ein Konzert vor 150 Jahren unterschied sich eklatant von einem unserer Zeit: Es wurde ausschließlich zeitgenössische Musik gespielt und die Musiker waren meist direkt im Ensemble ausgebildet. Dagegen mutet unser Konzertleben wenig aufregend und rückwärtsgewandt an. Doch ist es so auch für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet? Ekkehard Klemm hat zu dieser Frage zehn Thesen ­aufgestellt und bietet Lösungsansätze an.

1. Ursprung Ensemble
Orchestermusik ist aus dem Geist des Musizierens im Barock-­Ensemble entstanden. Agieren und reagieren, Individualität und Kommunikation sind die Basis eines direkten und lebendigen Kontakts im Ensemble – mit dem Drang zur Größe steigt die Gefahr der Verkümmerung dieser Grundtugenden des Ensemblemusizierens: Standen ursprünglich partnerschaftliches Musizieren und Aufeinander-Hören im Mittelpunkt, gelingt Mahlers Achte nur in Gefolgschaft auf die streng ordnende Hand und das Charisma einer Dirigentin oder eines Dirigenten. Die Vitalität des Ensembles steht dem Korsett des Riesenorchesters gegenüber.

2. Einheit von komponierendem und ausübendem ­Musicus
Der Spiritus rector des barocken Ensembles war ein Primus inter pares, war gleichzeitig Schöpfer und ausübender Musicus, daneben auch Musikvermittler, Pädagoge, Theoretiker, Intendant und Impresario in einer Person. Hinzu kamen oft genug philosophische, theologische und literarische Kompetenzen. Die Vielschichtigkeit der Tätigkeit und die kommunikativen Qualifikationen weiteten den geistigen und musikalischen Horizont und sind die Ursache einer musikalischen Lebendigkeit, die zum Spezialistentum diametral entgegengesetzt stehen.

3. Musizieren in Zeitgenossenschaft
Das Musizieren in der Zeit der Entstehung des bürgerlichen Konzerts, der Singvereine und Musikfeste war ein Musizieren fast ausschließlich zeitgenössischer Musik. Sie schloss Professionelle ebenso ein wie Laien. Die Neugier auf das neue Werk, die Reflexion darüber in Briefen, Rezensionen und dem direkten Austausch waren die prägenden Elemente eines Musikbetriebs von Singakademien, Philharmonischen Gesellschaften und Opernhäusern.

4. Ausbildung in die Zeitgenossenschaft hinein
Wurden in der Zeit des Barock Musiker in die musikalische Praxis als Chorknaben und später Instrumentalisten direkt einbezogen und damit in die jeweilige Praxis hinein auch erzogen, waren die ursprünglichen Ideen von Konservatorien und musikalischen Ausbildungsinstituten direkt mit den Ensembles vor Ort verbunden. Teilhabe an zeitgenössischer und damit authentischer Musikpraxis waren die Garanten einer erfolgreichen Ausbildung.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 10/2022