Straub, Eberhard

Wagner und Verdi

Zwei Europäer im 19. Jahrhundert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Klett-Cotta, Stuttgart 2012
erschienen in: das Orchester 04/2013 , Seite 63

´Unendliche Melodie und „Humtata“, Belcanto und Leitmotiv, ein tiefgründelnder Deutscher und ein bodenständiger Italiener stehen sich in Wagner und Verdi einander gegenüber. Wagner, dem es in seinen Musikdramen um neurotische Sexualkonflikte und Erlösung, Regeneration und Religion geht, schrieb alles selbst. Verdi, der die Wirklichkeit samt ihrer Außenseiter, Schurken, Mächtigen und Gestrauchelten auf die Bühne bringt, beschäftigte Librettisten. Er bediente sich der Geschichte. Wagner bevorzugte gestrig-übermorgige Mythen, Märchen und Utopien und hat sein Werk immer wieder kommentiert und seinem Publikum erklärt. Verdi beließ es dabei, seine Opern auf die Theater zu werfen, ansonsten kümmerte er sich mehr um seinen Bauernhof als sein Publikum.
Beide haben sie Politik gemacht, Wagner mit polemischen Schriften und Reden, Verdi mit seinen Opern und ihrem vaterländischen Identifikationsangebot im Risorgimento. Wagner wollte mit seiner Musik narkotisieren, parfümieren, berauschen, überwältigen. Verdi mit seiner knappen, zugespitzten Musikrealistik war bescheidener – und vielleicht ehrlicher. Seine Opern haben menschliche Dimensionen. Wagners Werke strapazieren das Sitzfleisch des Publikums über alle Maßen. Last but not least: Verdi war wohl der angenehmere Zeitgenosse als Wagner.
Bei aller Gegensätzlichkeit betont Eberhard Straub doch in seinem klugen Buch über die beiden ungleichen Gleichzeitigen des Jahrgangs 1813 weniger das Trennende als das Verbindende der Komponisten. Die Hofmannsthal’sche Formel vom „Geheimnis der Contemporaneität“ ist denn auch das durchgängige Leitmotiv seines Buchs, auch wenn es sehr deutlich Wagners Eifersucht auf Verdi und Verdis Distanziertheit gegenüber Wagner darstellt, bei aller gegenseitigen Bewunderung wie Fremdheit.
Die Komponisten, die sich gegenseitig beobachteten, brauchten sich nicht, deshalb begegneten sie sich auch nicht zu Lebzeiten. „Beide hatten sich aus allen möglichen Abhängigkeiten befreit und gingen ihren Weg.“ Ihr Ziel war fast dasselbe. Was Verdi einer Sängerin schrieb: „Ich habe versucht, … Musik zu machen, die so gut ich es vermochte, an das Wort und die Situation gebunden ist“, gilt auch für Wagners „Kunstwerk der Zukunft“, das die Musik durch das Wort aus ihrer Unbestimmtheit erlöse. Darin waren sich die beiden Weltbürger Verdi, der „kein bornierter Italiener“ gewesen sei, und Wagner, der „es nicht recht in Deutschland aushielt“, einig. Auch die Darstellung des „Reinmenschlichen“ war beider Absicht, auch wenn sie es in unterschiedlichem Gewand auf die Bühne brachten. Fazit des Buchs: „Wagner ist viel italienischer, als die germanische oder altdeutsche Maskerade vermuten lässt, und Verdi viel deutscher, als ihm selbst zuweilen lieb sein konnte.“
Dieter David Scholz