Friedrich, Sven

Wagner im Spiegel seiner Zeit

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Fischer, Frankfurt am Main 2013
erschienen in: das Orchester 07-08/2013 , Seite 65

Außergewöhnlich ist der Ausstoß an Wagner-Literatur nicht nur im jetzigen Jubiläumsjahr, sondern fast jedes Jahr. Umso erstaunlicher, dass gute Anthologien über Wagner eher Mangelware sind. Die letzten wichtigen Neuerscheinungen waren Dietrich Macks Beiträge zur Wirkungsgeschichte Richard Wagner. Das Betroffensein der Nachwelt aus dem Jahr 1984 und die von Wagner-Urenkelin Nike Wagner zusammengestellte Auswahl Über Wagner aus dem Jahr 1995, die der Reclam-Verlag gerade in einer aktualisierten und erweiterten Ausgabe wieder aufgelegt hat.
Während die beiden genannten Standardwerke einen historischen Längsschnitt liefern, der in der jeweiligen Gegenwart endet, hat Sven Friedrich mit seiner Neuerscheinung einen anderen Weg eingeschlagen. Seine Anthologie Wagner im Spiegel seiner Zeit beschränkt sich auf Wagners Zeitgenossen, wobei ein Drittel der Zeugnisse sich um den späten Wagner bzw. die Nachwirkung ranken. Insgesamt sind es Texte von über fünfzig Autoren, die allesamt zu Wagners Lebzeiten geboren wurden, ihn aber mehrheitlich deutlich überlebt haben – vom Neffen Ferdinand Avenarius bis zum „Berufs-Wagnerianer“ Hans von Wolzogen.
Der historisch begrenzte Querschnitt hat durchaus seinen Reiz. Indem man chronologisch in Wagners Kindheit und Jugend, die Hungerjahre in Paris und alle weiteren Stationen seines Lebens bis zum Tod in Venedig am 13. Februar 1883 sowie in Nachleben und Nachwelt eintaucht, kann man den Menschen und Künstler, sein Werk und seine Wirkung aus seiner Zeit heraus besser verstehen – ohne die bei Wagner den Blick zuweilen verstellende Selbstdarstellung. Die Erinnerungen, Berichte, Briefe, Gedichte, Kritiken, Hymnen, Pamphlete, Polemiken, Tagebucheinträge und sonstigen Texte aller Art spiegeln ihn in der ganzen Bandbreite und sind auch sprachlich immer wieder ein Vergnügen.
Bildhaft und ausdrucksstark beschreibt ihn z.B. der Maler Friedrich Pecht und kommentiert Wagners Selbstbewusstsein mit dem schönen Satz: „Widerwärtig sind nur die vielen Zwerge, die sich für Riesen ausgeben möchten, weil sie auf Stelzen gehen!“ Dagegen sieht der Karlsruher Theaterdirektor Eduard Devrient gleich eine „Hagelwolke voll Beunruhigung und Widrigkeit über seine alten Tage heraufziehen“, weil Wagner die Tristan-Uraufführung zunächst bei ihm ins Auge fasst. Selbst der vertrauliche Bericht der Wiener Polizei ist immer wieder lesenswert, zumal wenn man heutigere Polizeiprosa kennt.
Wagners schmähliche Hetzschrift Das Judentum in der Musik kommt im Hauptteil des mit Anhang 364 Seiten umfassenden Bandes nur zweimal explizit vor, was aber nicht heißen will, dass die kritischen Stimmen zu kurz kommen: Es entspricht wohl nur der Quellenlage. Apropos: Von Sven Friedrich, dem Direktor des Bayreuther Wagner-Museums und Leiter des Nationalarchivs der Richard-Wagner-Stiftung, hätte man wenigstens eine Erstveröffentlichung erwartet. Seltsamerweise ist das nicht der Fall. Das Gros der Texte wurde bereits in dem 1975 erschienenen Buch Wagner. Sein Leben, sein Werk und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und Texten von Herbert Barth, Dietrich Mack und Egon Voss vorgelegt.
Monika Beer

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