Wagner at Wahnfried

Mitglieder des Festspielorchesters Bayreuth, Camilla Nylund (Sopran), Ltg. Christian Thielemann

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Deutsche Grammophon
erschienen in: das Orchester 04/2021 , Seite 67

 

Welche Tondokumente mit hohem kulturpolitischen Erinnerungswert gibt es? Zum Beispiel den Freischütz unter Wolf-Dieter Hauschild zur Eröffnung der Semperoper 1985, Leonard Bernsteins Dirigat der Ode an die Freiheit zu Weihnachten 1989 im Ost-Berliner Schauspielhaus, die digitale Corona-Johannespassion aus der Thomaskirche vom Karfrei-tag 2020. Jetzt reiht sich das nur 37-minütige Album Wagner at Wahnfried in die Gruppe der von einer Gloriole umstrahlten Ereignisse klassischer Musik mit Trostbotschaft ein.
Die Bayreuther Festspiele 2020 wurden wegen Corona abgesagt, die Premiere der Ring-Inszenierung von Valentin Schwarz auf voraussichtlich 2022 verschoben und in den Medien Alternativen angeboten. Das Gelb-Etikett erwies sich als praktische Alternative, indem es eine Reihe von Festspiel-Produktionen und bedeutenden Inszenierungen der Vergangenheit wie die Ring-Zyklen von Patrice Chéreau und Frank Castorf ins Netz stellte. Im Festspielhaus entwickelte der dänische Komponist Simon Steen-Andersen die Videokunst-Aktion The Loop of the Nibelung, bei der die Musik aus dem Gemäuer und den Eingeweiden des Baus zu kommen schien.
Korrekt steht auf dem CD-Cover „Bayreuther Festspiele“, nicht „Orchester der Bayreuther Festspiele“ (Mitschnitt vom 25. Juli 2020). Christian Thielemann hatte dreizehn von ihm besonders geschätzte Musiker aus dem Orchester der Bayreuther Festspiele um sich versammelt. Zwei Konzertwerke Richard Wagners, die ihre Entstehung privaten Anlässen verdanken, erklangen in kleiner Besetzung. Die Interpreten agierten im Salon der Villa Wahnfried, das Publikum verfolgte auf Stühlen im Vorgarten von Wagners großbürgerlicher Wohnstätte das Konzert auf großen Screens. Thielemann dirigierte also mit dem Anspruch eines optimalen Klangs nicht im Aufführungsraum, sondern als bestmögliche Abmischung für die Hörer draußen (und an den Endgeräten).
Melancholie bedarf keiner Schwere: Die leise Trauer ist da, verhüllt durch sommerliche Milde. Camilla Nylund macht vergessen, dass sie als ideale Heroine der leichtgewichtigeren Wagner-Partien auf dem Weg in reifere Sopran-Gefilde ist. In Diktion, feiner vokaler Artikulation und mit durch Introvertiertheit starkem Ausdruck bewegt sie sich in güldenen Gesangssphären wie vor einigen Jahren auf ihrer Sammlung mit von Max Reger instrumentierten Schubert-Liedern. In den Flüchtigkeiten der Augenblicke wird deutlich, dass Wagners fünf Lieder nach Gedichten der von ihm in Zürich umschwärmten Mathilde Wesendonck viel zu häufig als konzertantes Aktionsfeld dramatischer und hochdramatischer Stimmen genutzt werden.
Die im dritten Tristan-Aufzug wiederkehrenden aufsteigenden Akkorde tönen aus Wahnfried wie Spinnweben-Schleier. Versonnen singen die Streicher auch im Siegfried-Idyll. Das gerät zur akustischen Fotosynthese wie von Blättern unter Licht. Niemand soll in diesem klagenden Sommerlied das intim gehaltene Potpourri eines explosiven Heldenlebens erkennen.
Roland Dippel