Frauke Adrians

Vor Gericht und im Krieg

Die Lautten Compagney Berlin feiert Bach und Crüger

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 40

Hätte Bach Opern geschrieben … dann hätten sie auf dem Nährboden seiner Oratorien und Passionen wachsen können. Wie viel Drama in der Johannespassion steckt, haben etliche Inszenierungen in den vergangenen Jahren gezeigt. Dies wurde im April auch bei einer mehr als nur halbszenischen Aufführung unter dem Titel „Wahrheit!“ deutlich, die Wolfgang Katschner und seine Lautten Compagney Berlin gemeinsam mit der Capella Angelica, der SingFest Choral Academy aus Hongkong und internationalen Gesangssolis­ten in die Berliner Elisabethkirche, einen zum Kon­zertsaal umgewidmeten Backsteinbau, brachte. Das Unterfangen mit dem Untertitel „Bachs Johannespassion als Schauprozess“ zeigte allerdings auch die Grenzen der Verbildlichung auf.
Die Hongkonger Regisseure Patrick Chiu, Ivanhoe Lam und Wei-Wei Lim haben das Aufführungskonzept erarbeitet, die Choreografie stammt von Lam. Er bringt ein Gegeneinander von statischen und bewegten Elementen auf die Bühne, mit einem Solotänzer (Janosch Horn) als auffälligstem Aktivposten und einer breiten Gerichtsbank, die dem Publikum über weite Strecken die Sicht erschwert, als unbewegtem Widerpart. Schau-Prozess hin oder her: So ganz genau, lautet wohl die Botschaft des über Jesus zu Gericht sitzenden Pilatus, soll die Öffentlichkeit eben doch nicht schauen und also nicht erfahren, was sich abspielt.
Was wird hier gespielt? Es sind so starke wie ungewöhnliche Solisten, die die Handlung zu tragen scheinen, auch wenn „das Volk“ immer wieder in die Rolle des Hauptakteurs tritt. Reginald Mobley, der den Jesus verkörpert, ist Countertenor, kein sonorer Bariton für lange Melodiebögen wie bei der Johannespassion üblich; zur großen, kräftigen Gestalt des Sängers eine Stimme, die menschliche Verletzlichkeit ahnen lässt. Maria Ladurner singt einen Sopran-Part von transzendenter Schönheit. Simon Robinson in der Rolle des Pilatus braucht seine Hände nicht in Unschuld zu waschen, denn er trägt ohnehin weiße Handschuhe – wie auch der Chor, und der hat das Unschuldsweiß dringend nötig, ist es doch das im Chor geifernde Volk, das „kreuzige, kreuzige!“ fordert.
Die Regisseure von „Wahrheit!“ setzen den Übergriff geradezu körperlich in Szene, wenn Sängerinnen und Sänger den auf sich gestellten, verletzlich wirkenden Tänzer attackieren. Trotz der handgreiflichen Hebefiguren ist das Schauspiel durchweg von Traurigkeit getönt, kein Aufbegehren setzt sich durch, Christus ist der schon halb entrückte Erdulder all dessen, was da kommt. Christian Pohlers als Evangelist legt – in manchmal fast unerbittlicher Tenor-Klarheit – Zeugnis ab von dem, was nun einmal erfüllt werden muss. Janosch Horn unterläuft die Rigorosität hier und da pantomimisch, dann erinnert der sich im Tanz windende Körper daran, dass nicht alles in Stein gemeißelt ist.
Die Lautten Compagney erweist sich auch in dieser Produktion als beispielgebendes Ensemble für Alte Musik mit Blick auf das Neue. Die Musikerinnen und Musiker unter Leitung von Wolfgang Katschner kultivieren einen dunklen, klaren Ton und machen die Inszenierung der Passion mit ihrem wachen, zugewandten Spiel erst möglich. In einem akustisch sehr gut geeigneten Raum wie der Elisabethkirche kommt der Kammerorchesterklang der Compagney gut zur Geltung.
In der Johannespassion fragt Pilatus den Angeklagten, was das denn sei, die Wahrheit. Die Frage ist schmerzlich aktuell – was ist Wahrheit, wenn Propagandisten in Russland den Krieg zur „Spezialoperation“ umlügen oder Extremisten sich ihre Weltsicht aus „alternativen Fakten“ zusammenbasteln? Oder wenn im Herkunftsland der Regisseure die Volksrepublik China schaltet und waltet, allen Abkommen über ein vorerst freiheitlicheres Hongkong zum Trotz?
Reminiszenzen an konkrete Schauplätze, an denen das Bemühen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit heute mit Füßen getreten wird, spart die Inszenierung aus; der Regie geht es wohl eher um die Zeitlosigkeit des Themas. Selbst der Antisemitismus des Passionstextes wird nicht hervorgehoben. Aber während das Volk wähnt, über einen anmaßenden selbsternannten „König der Juden“ zu Gericht zu sitzen, funktioniert die Passions-Inszenierung als Schauprozess gegen die Anklage und damit auch gegen das Volk selbst. Der nächste Schritt ist dann nicht mehr weit: Jeder und jede im Publikum kann sich ausmalen, wie es wäre, selbst auf der Anklagebank zu sitzen – als Sünder wider die Wahrheit.
Musik in Kriegszeiten: Mit diesem Thema setzten sich die Lautten Compagney und vier Mitglieder der Capella Angelica auch Ende Juni auseinander, in einem Konzert in der Berliner Nikolaikirche. Anlass war der 400. Jahrestag der Amtseinführung von Johann Crüger als Kantor dieser Kirche, die im ältesten Teil Berlins steht und die am Ende des Zweiten Weltkriegs in Trümmern lag, aber noch zu DDR-Zeiten wieder aufgebaut wurde; heute ist sie Museum. Crügers 40-jährige Amtszeit als Kantor schließt fast den gesamten Dreißigjährigen Krieg ein, und doch war sie eine Blütezeit: Crüger vertonte an der Nikolaikirche in kongenialer Zusammenarbeit mit dem Theologen und Dichter Paul Gerhardt dessen Liedtexte, von denen etliche bis heute das Evangelische Gesangbuch prägen.
Dass Liedvertonungen Crügers Stärke, aber längst nicht alles waren, was er zur Musikgeschichte beigetragen hat, machte Wolfgang Katschner in seiner Konzertmoderation deutlich. Crüger erneuerte die kirchenmusikalische Praxis und berief sich komponierend auf Vorbilder wie Heinrich Schütz und Michael Praetorius. Obwohl er im Unterschied zu Schütz nie in Italien war, hatte er als Enkelschüler von Giovanni Gab­rieli lebendigen Kontakt zur im 17. Jahrhundert modernen musikalischen „Italianità“. Ein tänzerisches Canzon Primi Toni von Gabrieli spielte die Lautten Compagney in einer wunderbar federnden, schwebenden Interpretation; doch im Zentrum standen Crügers Liedvertonungen, etwa von Gerhardts Wach auf mein Herz und singe.
Bei Jesu, meine Freude hätte ein weniger versierter Ensemble-Leiter versucht, den Effekt durch Hinzufügen von Instrumenten von Strophe zu Strophe zu steigern. Wolfgang Katschner machte das Gegenteil: Er ließ seine Lautten Compagney nach und nach verstummen, bis das „Weicht, ihr Trauergeister“ nur noch a cappella erklang, mit vollem Fokus auf den Text von Johann Franck und die exzellenten Stimmen von Peyee Chen (Sopran), Stefan Kunath (Alt), Stephan Scherpe (Tenor) und Jakob Ahles (Bass). Im Anfang war das Wort – und die Harmonie der Stimmen. Überzeugender kann man Johann Crüger nicht feiern.