Peter Gülke

Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler, Kassel/Berlin
erschienen in: das Orchester 12/2024 , Seite 66

Peter Gülke, der in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag beging, zeigt sich in seinem neuen Buch erneut als ein Meister des Schreibens über Musik. Seine Einsichten und die Art ihrer Versprachlichung speisen sich aus jahrzehntelangen Erfahrungen als Dirigent, einem schier unerschöpflichen musikwissenschaftlichen Kenntnisreichtum und den Qualitäten eines universal gebildeten Homme des lettres. Gülke weiß: „Je näher man musikalischen Sachverhalten kommt, desto mehr sieht man sich auf eine eher Schriftstellern gehörige, konnotativ biegsame, stärker kontextabhängige Terminologie angewiesen, immer sich dessen bewusst, dass Worte, Namen, Begriffe abgrenzen, Randzonen des Gemeinten damit vernachlässigen.“ Was Gülke schreibt, schmiegt sich der jeweiligen Musik an; seine Ausführungen sind zugleich behutsam und genau. Sie erwachsen aus den jeweiligen Werken und ihren ästhetischen Potenzialen.
Das Buch beginnt mit einer Einleitung, die viele Fragen rund um den Problemkreis schriftlicher Fixierung von Musik und deren Realisierung sowie zu Möglichkeiten und Grenzen der Versprachlichung von Musik erörtert. Es folgen Porträts von fünf dem Autor nahestehenden Interpretenpersönlichkeiten: Dina Ugorskaja, Kurt Sanderling, Joachim Ulbricht, Herbert Blomstedt, Alfred Brendel. Gülke spürt ihrer Musikalität, ihren musikalischen Arbeitsweisen und den Qualitäten ihres Interpretierens nach.
Der umfangreiche Hauptteil „Vom Mittelalter bis heute. Die vorläufigen Ewigkeiten der Musik“ versammelt 38 Texte zu Musikwerken diverser Gattungen und Besetzungen aus fast allen Epochen abendländischer Musik. Die meisten Texte wurden im Blick auf Aufführungen geschrieben. Bis in ihre Einzelheiten kennt Gülke die Werke; mit vielen Taktangaben verdeutlicht er minutiös charakteristische Fakturen und vermittelt ihre Ausdrucksqualitäten. Das macht die Lektüre bisweilen mühsam, denn ohne Noten lässt sich vieles nicht nachvollziehen. Gleichzeitig verbindet Gülke seine analytischen Ausführungen mit vielen geistesgeschichtlichen Reflexionen, die immer wieder unmittelbar fesseln.
Im Schlussteil „Vor dem Auftritt“ beschreibt Gülke zunächst die Technik seines Werkstudiums und Grundzüge seiner Probenarbeit; sodann formuliert er einen Katalog von Ratschlägen, „die ich Einsteigern ebenso ans Herz lege wie mir selbst vor Augen halte“. Sie bilden ein wertvolles Kondensat seiner lebenslangen Erfahrungen als Dirigent. Schließlich reflektiert er übergreifend die Differenz von „Sinn- und Buchstabentreue“.
Gülkes Buch ist ein überbordendes Meisterwerk der Zusammenführung von musikalischer Theorie und Praxis und einer aus ihr erwachsenen Vermittlung von Musik.
Ulrich Mahlert