Heinz Holliger

Voi(es)x métallique(s) – (Zinngeschrei)

Für einen unsichtbaren Schlagzeuger

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott Music
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 66

Wenn ein so einfallsreicher Komponist wie der Schweizer Heinz Holliger ein Solostück für Schlagzeug komponiert, dann darf man gespannt sein. Wird es ein Musiktheater, thematisiert es das Verhältnis von Musik und Körper? Die Erwartungen werden nicht enttäuscht, Holligers Stück Voi(es)x métallique(s) aus dem Jahr 2000 kombiniert beide Komplexe zu einem körpermusikalischen Theater.
Den komplizierten Stücktitel übersetzt Holliger poetisch mit „Zinngeschrei“, dem Wort zur Beschreibung des charakteristischen Geräuschs, das bei der Verformung von Zinn entsteht. Aber auch auf der Materialebene weist der Werktitel mit der Doppelbedeutung von Metallspur und Metallstimme direkt ins Stück hinein. Bei Holliger geht es um die Klangwelt der Metalle, verwendet wird als Hauptinstrument ein sehr großes Tamtam. Hinter diesem ist der Interpret unsichtbar platziert (bei der Uraufführung bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik war es der Schweizer Schlagzeuger Matthias Würsch) und traktiert von dort aus mit Superballs, Schaschlikspießchen und anderen ausgetüftelten Klangerregern den großen Metallkörper, parallel dazu seine Stimme nutzend. „Körper wird Instrument. Instrument wird Körper. Stimme, Schrei, Gesang, Sprache, Atem, Körper- rhythmen verschmelzen mit den vielfältigen Resonanzen des Tamtams zu einem einzigen Klangraum“, so beschreibt es Holliger in seinem Vorwort.
Das Stück beginnt mit einem Urschrei, dessen metallische Resonanz durch verschiedene Spieltechniken verlängert wird, hinzu gesellen sich im Verlauf viele weitere körperliche Aktionen. Aus der theatralischen Grund­situation des unsichtbaren Musikers entwickelt sich ein vielstimmiges und teilweise sehr heftiges Monodrama, in dem sich der Akteur erst spät in einer abschließenden Coda mit letztem Atem stoßweise (wie „erstickend“) und mit dem Abtropfen eines Wassergongs vom Tamtam trennt. Zwölf musikalisch spannende Minuten lang währt das Zinngeschrei, die Klangwelt ist erwartbar geräuschhaft und nur manchmal akzentuiert mit Anklängen ab­strakter Melodien.
Die Kraft und Heftigkeit der Komposition erinnert stark an das musikalische Theater von Dieter Schnebel oder Vinko Globokar – Holliger knüpft aber auch an seine legendäre Cardiophonie (1971) für Oboe und Tonband an. Dort machte er den Herzschlag des Oboisten zum Dirigenten und inszenierte im Spiel des physisch extrem fordernden Blasinstruments ein Drama um Leben oder Tod. Nach diesem Körper-Musik-Klassiker der frühen 1970er Jahre sowie dem Monodrama Not I (1979) für Sopran bringt Schott aktuell ein drittes Werk holligerscher Körpermusik heraus. Zu wünschen wäre, dass ein Neue-Musik-Festival oder eine Musikhochschule bald einmal die Herausforderung annimmt, diesen Triathlon in einem einzigen Musiktheaterabend auf die Bühne zu bringen. Es würde sich lohnen.
Stephan Froleyks