Christine Cerletti/Thomas Voigt (Hg.)

Voices

Prägende Musik- und Theatererlebnisse

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Verlag für moderne Kunst, Wien
erschienen in: das Orchester 02/2024 , Seite 63

Zwar wird mit 70 lebenden Bühnenkünstlern und ihrem „Wie es begann …“ geworben, doch dann sind Silja, Callas, Bernstein, Toscanini und Carlos Kleiber mit jeweils zwei Seiten und Zitaten vertreten. Müssten dann nicht auch Abbado, Solti, Giulini, Kubelík, Reiner oder der „Alle-Erzieher“ Swarowsky folgen? Unter den Ausgewählten fehlt prompt der Anti-PR-Mensch Kirill Petrenko, während der anscheinend unvermeidliche Festspiel-Intendant Nikolaus Bachler als „Stimme“ dabei ist – sollten da neben Barrie Kosky nicht eher Loy, Guth, Herheim, Kratzer stehen? Regisseurinnen und Dirigentinnen fehlen. Und wenn bei einer Jung-Sopranistin ausdrücklich erwähnt wird, dass sie ihre eigene Kosmetik-Linie auf einem banalen Verkaufssender vertreibt, dann wähnt sich der Leser im Marketing-PR-Geschwurbel mit einem Geschmäckle. Wo sind der gerade erst verstorbene William Cochran oder Kränzle, Stinnes, Makula oder Braid? Einige Künstler haben dem Autor:innen-Duo nicht geantwortet. Natürlich ist dann so eine Auswahl immer auch Autor:innen-geprägt.
Den Anfang bildet ganz zu Recht ein letztes Interview mit Christa Ludwig: darin etwa ihr „Ja“ zu Fidelio, ihr „Nein“ zu Isolde und Brünnhilde; leider fehlt ihr genüssliches Schal-und-Mantel-Öffnen nach ihrem Abschiedsabend mitten im Winter. Brigitte Fassbaender erzählt vom frühen Glück unter dem Flügel des Vaters während seiner Gesangsstunden. Neben Thielemanns kindlicher Bach-Begeisterung findet sich dann auch das Ehepaar Hengelbrock-Wokalek. Jonas Kaufmann nennt seine ersten Chor-Erlebnisse. Die 14-jährige Ermonela Jaho wird vom Traviata-Vorspiel „davongetragen“. Anrührend, dass im Arbeiter-Zuhause Ivor Boltons nahe Manchester aus Prestigegründen ein Klavier angeschafft wurde – und dann ein beeindruckender Lehrer ihm Horizonte eröffnete. Cecilia Bartoli wurde schon als Embryo „infiziert“: vom Sopran der Mutter und dem Tenor des Vaters. Jochen Kowalski, ein „Türöffner“ fürs Fach „Counter“, genoss als Kind in der DDR West-TV mit Anneliese Rothenberger. Anne Sophie von Otter und Bryn Terfel finden über die schwedische bzw. walisische Chor-Tradition zum eigenen Gesang. Viele andere Beispiele lesen sich reizvoll divers – bis zum Schwärmen von Lied-Begleiter Helmut Deutsch für Irmgard Seefried, Wilma Lipp und vor allem Ileana Cotrubas.
Der vielfältige Reigen schöner Menschen ist mit einer Vielzahl schöner Bühnen- und Privat-Fotos, Texte der Autor:innen und Interview-Ausschnitten zu bestaunen. Literaturempfehlungen, Textquellen und Personenregister erleichtern die ausschnittweise Nutzung. Fast nie die Opferbereitschaft bis hin zur quälerischen Anspannung zugunsten der Kunst, sondern „Schönheit“ durchzieht fast die ganzen 330 Seiten, so dass der Band sein davon begeistertes Publikum wohl auf höchstpreisigen Festivals finden wird.
Wolf-Dieter Peter