Peter Schneider

Vivaldi und seine Töchter

Roman eines Lebens

Rubrik: Buch
Verlag/Label: Kiepenheuer & Witsch
erschienen in: das Orchester 07-08/2020 , Seite 61

Mehrere Jahrzehnte wirkte Antonio Vivaldi in seiner Heimatstadt Venedig als Musiklehrer am Ospedale della Pietà. In dem am Canale Grande gelegenen Waisenhaus lebten vorwiegend ausgesetzte Mädchen. „Vivaldis Töchter“ nennt Peter Schneider die Elevinnen, die unter der Leitung seines Protagonisten im Chor und vor allem im Orchester der Pietà musizierten. Die meisten seiner vielen Konzerte vor allem für Violine und andere Instrumente komponierte Vivaldi für den Instrumentalunterricht und die Ensemblearbeit mit den jungen Musikerinnen. Der Ruhm des hervorragenden Mädchenorchesters verbreitete sich bald in ganz Europa. Kenntnisreich und farbig schildert Schneider Vivaldis Leben und Wirken in Venedig, später auch u. a. in Mantua, Rom, Triest und Wien, wo Vivaldi 1741 starb. Er beschreibt die damaligen Lebensumstände, gesellschaftliche Verhältnisse, Machtspiele und Intrigen, die Schwierigkeiten des geweihten Priesters Vivaldi im Spannungsfeld von kirchlicher Bindung und weltlichem Musikbetrieb, seine ungeheure kompositorische Produktivität, die Arbeit mit seinen Schülerinnen, seinen Librettisten und Opernensembles, das Aufsteigen und das Sinken seines Sterns.
Auch den Werken Vivaldis, besonders den „Vier Jahreszeiten“ (den heute wohl meistgespielten Stücken des Klassikrepertoires) und einigen prominenten seiner insgesamt wohl neunzig Opern (nur vierzig davon liegen heute vor) widmet Schneider mancherlei aufschlussreiche Kommentare.
Die Diktion des Buches ist eine Mischform von romanhaft geschilderten Episoden und informierenden Ausführungen. In Letzteren referiert Schneider häufig aus dem Schrifttum der musikwissenschaftlichen Vivaldi-Forschung, aus zeitgenössischen Quellen und Arbeiten zur Kulturgeschichte Venedigs. Einen „Roman“ bilden der Text somit nur streckenweise. Das häufig unvermittelte Changieren zwischen sachlich informierenden Passagen und erzählenden, oft in wörtlicher Rede gehaltenen Partien ist eine Besonderheit des Buches. Schneider hat seine Recherchen wie auch seine persönliche Geschichte der Beschäftigung mit Vivaldis Musik nicht in einer konsequent durchgeführten Romanhandlung aufgehen lassen, sondern sie selbst explizit dargestellt. Der Prozess einer Annäherung an Vivaldi ist Teil des Buches. Dass es entstanden ist, verdankt sich der Bitte des legendären Kameramanns Michael Ballhaus: Er hatte Schneider um ein Drehbuch für einen Vivaldi-Film gebeten. Ballhaus starb 2017. Das Filmprojekt kam nicht mehr zustande. Gelegentliche Versehen und Formulierungspannen hätte ein Lektorat leicht korrigieren können. Aus dem Cembalo, das Vivaldi seiner Schülerin und Gefährtin Anna Girò kaufte, wird einige Seiten später ein Klavichord; ebenso mutiert das Cembalo, für das Bach Vivaldi-Konzerte bearbeitet hat, an anderer Stelle zum Klavichord. Die Formulierung „klassische Musikgeschichte“ sollte besser lauten „Geschichte der klassischen Musik“, und handschriftlich gefertigte Autographen“ sind ebenso ein weißer Schimmel wie „handgeschriebene Manuskripte“. Der Lesegenuss und die Qualitäten des Buchs bleiben davon unberührt.
Ulrich Mahlert