Terzakis, Dimitri

Visionen

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 7331 2
erschienen in: das Orchester 05/2016 , Seite 73

Angeregt von seinem Vater, einem griechischen Schriftsteller, beschäftigte sich Dimitri Terzakis (*1938) früh mit antiker Dichtung und Philosophie. Sein in Athen begonnenes Kompositionsstudium setzte er Mitte der 1960er Jahre in Köln bei Herbert Eimert und Bernd Alois Zimmermann fort. Danach widmete er sich quellenforschend der byzantinischen Musik. 1989 berief ihn die Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf, 1994 wechselte er als Kompositionsprofessor an die Leipziger Hochschule für Musik und Theater. Als „Komponist zwischen zwei Welten“ fand er eine eigene Tonsprache – mit Wurzeln in den alten Musikkulturen Griechenlands und des östlichen Mittelmeerraums.
Schon zu Kölner Studienzeiten stieß ihn die Dogmatik der „Neutöner“ ab. Statt in Epigonentum zu verfallen, vertiefte er sich in die Schriften des antiken Musiktheoretikers Aristoxenos von Tarent. So wurde ihm die byzantinische Musik mit ihrem flexiblen Tonsystem und ihrer überreichen Melismatik zum Nährboden seines Schaffens, weshalb er Streichinstrumente vorzieht, die in der Lage sind, Mikrointervalle, gleitende Tonhöhen und feinste dynamische Nuancen hervorzubringen.
Der Titel des Violin-Duos Legetos (1988), das die abwechslungsreiche Werkauswahl eröffnet, verweist auf einen Modus der byzantinischen Musik, welcher „sehr interessantes Material von Mikrointervallen“ bietet. Alle übrigen Titel der CD sind literarisch inspiriert. Den Anstoß zum Sappho-Zyklus für Sprecherin (Brigitte Fassbaender), Sopran, Flöte, Viola und Klavier (2006) gab der erstaunliche Fund eines vollständigen Gedichts der antiken Lyrikerin. Terzakis fügte mehrere ihrer Fragmente hinzu und schuf eine singuläre Dialogsituation: Sappho teils auf Deutsch rezitiert, teils auf Griechisch gesungen; mal von der Flöte umspielt, mal vom Ensemble getragen, mal klar getrennt, mal ineinander verwickelt.
À une Madone für Violine und Kammerorchester (2007) bezieht sich auf das Gedicht „An eine Madonna“ aus der Sammlung Blumen des Bösen von Charles Baudelaire: eine blasphemische „Votivgabe im spanischen Geschmack“, die das Sakrale dämonisiert. Die Geige schildert die (vermeintliche) Reaktion der Madonna, empathisch mitgetragen vom Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer.
2004 versenkte sich Terzakis in die Abgründe der Johannes-Offenbarung. Visionen, die Schalen des Zorns überschrieb er seinen mit Sprecherin, gemischtem Chor und Viola ad libitum gar nicht so apokalyptisch besetzten Bericht von der Ausgießung der letzten sieben Plagen – engelgleich gesungen vom Thomanerchor Leipzig unter Georg Christoph Biller.
Passend dazu die abschließende Sonate infernale (2008/09) für Violine und Klavier mit Kolja Lessing und Andreas Kersten: eine Dialogstudie in drei Kapiteln (keine Sonate im klassischen Sinn), die dem Höllischen in Dantes Göttlicher Komödie in wachsenden Ringen nachspürt.
Lutz Lesle