Werke von Jean-Marie Leclair, Pietro Antonio Locatelli, Johann Georg Pisendel und anderen
Virtuosissimo
Il pomo d’oro, Ltg. Dmitry Sinkovsky
Oft ist es hilfreich, wenn große Solisten ihren eigenen Horizont durch ein zweites Standbein erweitern. Dmitry Sinkovsky ist ein aktuelles Beispiel dafür. Natürlich sind die Spieltechniken und musikalischen Fähigkeiten des russischen Geigers über alle Kritik erhaben. Dennoch fing er nach seinem Violinstudium in Moskau noch einmal ganz von vorne an und ließ sich zum Countertenor ausbilden.
Und damit nicht genug – er hängte noch ein Kapellmeisterstudium in Zagreb an, streng nach der Devise: „Nur so kann ich meine Ausbildung als Musiker komplettieren.“ Inzwischen gibt es gar eine Filmproduktion mit der Arie „Erbarme dich“ aus der Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs, in der er sowohl mit melancholisch-trister Attitüde geigt wie gleichzeitig hinreißend innig die Altpartie singt.
Auch Sinkovskys neueste CD Virtuosissimo ist ein wunderbarer Beweis dafür, dass seine eigene Ausbildungsphilosophie aufgegangen ist. Fünf Violinkonzerte aus der Feder von Komponisten der Zeit Johann Sebastian Bachs führt uns der aus der russischen Geigenschule hervorgegangene Ausnahmemusiker vor. Dabei beherrscht er die Solopartien mit teils halsbrecherischen Techniken ebenso souverän wie das geatmete Gestalten von zarten Melodiebögen in den langsamen Sätzen. Und so ganz nebenbei führt er ein Ensemble an, welches sich dem Solopart ebenso unter- wie beiordnet.
„Il pomo d’oro“ spielt in der Streicherbesetzung 3/3/3/2/1, ergänzt durch Oboen, Fagott, Harfe, Theorbe und Cembalo, und macht alle kapriziösen Seelenwanderungen Sinkovskys mit. Insbesondere die langsamen Sätze sind betörend dargeboten. Da wird getupft und gezupft, da werden flirrende Klangflächen zelebriert, an denen man sich kaum satt hören kann. Aber die Musiker können auch beherzt zu Werke gehen – mit teils ruppiger Tongebung, so wie es Sinkovsky zu Beginn des Locatelli-Konzerts vormacht. Diese so scharf gezeichneten Kontraste machen den besonderen Reiz des Interpretationsansatzes Sinkovskys aus.
Aber auch der Repertoirewert der CD kann nicht hoch genug angesetzt werden. Die italienischen, französischen und deutschen Meister um Bach führen uns geradezu eindringlich vor, dass die Tonsprache, der Erfindungsreichtum und der tonsetzerische Wagemut in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts keineswegs einheitlich war. Im Gegenteil – zwischen dem Konzert des Franzosen Leclair und dem des Deutschen Telemann liegen manchmal Welten. Kommt die Musik Leclairs zu Beginn nahezu impressionistisch-romantisch daher, kann man Telemanns Stil bei allem Respekt eine gewisse teutonische Betulichkeit nicht absprechen.
Dennoch ist die Herausgabe der CD mit diesen fünf Violinkonzerten, mit diesem Solisten und mit diesem Ensemble eine reine Ohrenweide. Die Platte bietet ein charmantes Kaleidoskop europäischer Virtuosität der etwas anderen Art. Es müssen ja nicht immer die „Vier Jahreszeiten“ von Antonio Vivaldi sein.
Thomas Krämer