Jean Sibelius
Violinkonzert, Violinstücke
Thomas Albertus Irnberger (Violine), Michael Korstick (Klavier), Royal Philharmonic Orchestra, Ltg. Doron Salomon
Der österreichische Geiger Thomas Albertus Irnberger hat bereits, obwohl noch nicht 40 Jahre alt, eine erstaunliche Diskografie mit über 60 Einspielungen, die er in Zusammenarbeit mit bedeutenden Partnern, in dieser CD mit dem Royal Philharmonic Orchestra und dem Pianisten Michael Korstick, realisierte. Seine CDs bringen nicht nur die bekannten Werke, sondern auch unbekanntere Kompositionen und erhielten viele Auszeichnungen. Die Programmzusammenstellung dieser Einspielung ist ungewöhnlich: Sie kombiniert das beliebte Violinkonzert von Sibelius mit unbekannteren Kompositionen für Violine und Klavier des finnischen Komponisten. Eine solch mutige Programmatik ist sicherlich nur durch die Zusammenarbeit mit dem ambitionierten Label Gramola möglich, das die CD mit einem umfangreichen, informativen Beiheft ausstattet, was heute nicht selbstverständlich ist.
Beim ersten Hineinhören fragt man sich erstaunt, ob das denn überhaupt das Violinkonzert von Sibelius ist. Es klingt nämlich ganz anders als gewohnt. Irnberger setzt auf eine klare Tonumgebung, also nicht auf den romantisch weichen Violinton, und betont klangliche Härten. Dadurch entsteht zum romantisch spielenden Royal Philharmonic Orchestra ein Gegensatz: Die Violine steht ihm gegenüber. Attila Csampai feiert in seiner Kritik im Magazin Rondo diese Interpretation als „magisch“ und „befreit vom Verschleiß 120-jähriger Popularität“. Mich allerdings überzeugt das Ergebnis nicht. Da das Orchester und der Solist offenbar eine unterschiedliche Klangvorstellung haben, wirkt das Zusammenspiel disparat. Doch Sibelius ist nicht Beethoven, in dessen Konzerten in der Tat zwischen Solist und Orchester ein dramatischer Gegensatz besteht. Vielmehr gestaltet Sibelius seine Musik symphonisch: Die Sologeige ist ein Teil des Orchesters. Irnberger vernachlässigt oft die großen Spannungsbögen. Dadurch gerät der Aspekt der musikalischen Erzählung in den Hintergrund. Manchmal dominiert das Material und nicht der Geist, wenn die Akzente allzu hart, bisweilen durchaus unschön gesetzt werden und der Bogendruck so stark ist, dass die Geige nicht mehr mitschwingt. Dabei kann Irnberger seiner Geige durchaus einen romantischen Ton entlocken, wie der Anfang des zweiten Satzes zeigt. Doch bei der Stelle mit den Doppelgriffen wird es dann technisch hart und ohne einprägsame Artikulation. Im dritten Satz fehlt es an tänzerischem Schwung und in den virtuosen Passagen an einer artikulatorischen Durchdringung.
So hoch dieser Versuch einzuschätzen ist, Sibelius’ Violinkonzert vom Staub einer über 100-jährigen Aufführungstradition zu befreien: Er ist hier nur teilweise gelungen. Doch hörens- und diskussionswert ist diese Einspielung allemal.
Franzpeter Messmer